Mein kleiner, weisser Waldgeist Ori springt mit flatternden Ohren über einen Graben voller Dornen – er verfehlt den angrenzenden Felsvorsprung knapp, springt direkt in die Dornen und stirbt. Ori springt nochmals über den Graben – zu früh, direkt in die Dornen. Ori springt erneut, ab in die Dornen. Dornen. Nochmals. Dornen. Nochmals. Jetzt will ich mit der Tastatur auf den Bildschirm schlagen. Grrrr. Ori nimmt erneut Anlauf, landet auf der anderen Seite. Ha! Gut, weiter.
Fünf Minuten später. Ori springt abwechselnd zwei Wände hoch, links und rechts spucken dornige Pflanzen böse Laser-Lichtkugeln die Wände herunter, unten lauern wieder Dornen. Ori wird getroffen und stirbt. Ori springt und verfehlt die gegenüberliegende Wand. Stirbt. Dornen. Stirbt. Lichtkugeln. Stirbt. Dornen. Nochmals Dornen. Lichtkugeln. An der Felskante zuoberst: nochmals Dornen. Klar: Oris Tod ist sicher, der letzte Speicherpunkt auch. Aus Frust haue ich auf meine Tastatur. Waaaaah!
Schoggi für die Augen
Dabei fing doch alles so schön und harmlos an. Während des ganzen Games plätschert und flötet im Hintergrund Musik , die direkt aus einem Film des japanischen Animationsstudios Studio Ghibli stammen könnte. Und die Geschichte beginnt gleich mit Druck auf die Tränendrüse: Der kleine Waldgeist Ori wird von Naru, einer runden, schwarzen Bärenmutterfigur mit weisser Gesichtsmaske gefunden und aufgezogen. Schlechte Dinge geschehen, Ori ist danach auf sich alleine gestellt und muss die Welt retten. Oder zumindest den abgestorbenen Wald wieder zum Leben bringen. Jöööööh!
Nach kurzer Zeit findet Ori das kleine Irrlicht mit dem deutschen Namen Sein, das ihn auf seiner Reise begleitet. Praktischerweise dient Sein auch als Kampflicht und schiesst Blitze auf Gegner. Aber manchmal vergesse ich glatt, dass Ori eigentlich kämpfen, springen und klettern sollte, so atemberaubend schön ist das Game. Im Vordergrund wogen Bäume, Sträucher und Wurzeln, im Hintergrund leuchtet dichter, grüner Wald. Quer über den Bildschirm hüpft der weisse Ori, begleitet von Sein, über schimmernde Pilze, knorrige Baumstämme und giftige Moore.
Es ist, als wäre ich im Zauberland von Chihiro gelandet. Oder in einem psychedelischen New-Age-Film. Alles scheint wie aus einem Guss, die Levels greifen nahtlos ineinander über und sind durch Farb- und Landschaftskonzepte klar voneinander getrennt. Es fühlt sich an, als würden meine Augen Schokolade essen.
Ein klassisches Hüpfspiel
Trotz der atemberaubenden Grafik funktioniert das Game eigentlich wie in altbekannten Hüpfspielen, etwa «Super Mario» auf dem Gameboy. Seine Tiefe erhält das Game, indem es mehrere Ebenen hintereinander staffelt. So fühlt sich der Zauberwald organisch und plastisch an, wenn Wurzeln durch den Vordergrund wogen und im Hintergrund sich das Dickicht im Unendlichen verliert.
Dabei ist «Ori and the Blind Forest» ein klassisches Hüpfspiel mit mir vertrauten Spielelementen: schwingende Hämmer, unter denen ich durchflitzen muss, Wände hinaufspringen, Geschossen ausweichen, Steinquader verschieben, Gegner ausschalten. Ausbalanciert wird das Gameplay durch einige Erweiterungen, so sammelt Ori etwa blaue Energiepunkte. Damit kann er Speicherorte erschaffen, an die er zurückkehrt, wenn er stirbt. Eine unübliche Möglichkeit bei Hüpfspielen, die aber dem Game eine gute Balance gibt. Denn stirbt Ori, dauert es nur wenige Sekunden, bis ich wieder von Neuem beginnen kann – und das gleich in der Nähe der kritischen Stelle. Ein nerviger Bildschirm, der minutenlang lädt, erübrigt sich.
Sterben hingegen Gegner, sammelt Ori Punkte, mit denen ich seine Fähigkeiten aufbessern kann. Damit erschliesse ich mir etwa neue Bereiche: Kann Ori beispielsweise ins Wasser tauchen, finde ich zusätzliche Extras und geheime Bereiche. Und zum Glück motivieren mich die Boni und Fähigkeiten. Sie kommen genau in dem Augenblick, in dem ich eigentlich aufgeben will.
Die ENTDECKUNG!
Denn «Ori and the Blind Forest» sieht zwar aus wie ein Spiel für Kinder, ist aber überhaupt kein Kinderspiel. 812 Mal bin ich gestorben, seit ich das Game angefangen habe. Perfiderweise zählt das Game jeden Tod Oris mit und vergleicht meine Statistik gnadenlos mit anderen Spielerinnen und Spielern.
Ori stirbt und stirbt und stirbt. Springt in rotgelbe Feuersbrünste. Wird von pinkem Spinnengift getroffen. Und immer wieder die pieksigen Dornen. Selbst die Musik, die mir doch eigentlich so gut gefällt, nervt nach einer Weile und fördert mit ihrem gelassenen Geflöte den Frust noch mehr. Ein, zwei Stunden nach Spielbeginn fühle ich meine PC-Tastatur schwächeln und greife zum Controller. Und siehe da: die Erleuchtung! Das Game spielt sich mit Controller um einiges flüssiger, rasanter und angenehmer als per Tastatur. Ori fliegt durch die Gegend und ich mit.
Der Frust aber bleibt, auch mit Controller. Meist schaffe ich es nur, etwa eine Stunde am Stück zu spielen, bevor ich aus Entnervtheit eine Pause einlegen muss. Und ich weiss nun, was Kunstturnerinnen alles auf sich nehmen müssen, denn so fühle ich mich: Jede Drehung, jeder Sprung, alles muss stimmen und genau zur rechten Sekunde erfolgen. Wenn das klappt, ist das schön. Wenn nicht, übertönen meine Frustrufe den Soundtrack. «Ori and the Blind Forest» verzeiht keine Fehler.
Etwa die Sequenz, in der Ori vor Wassermassen fliehen muss. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft Ori in den Fluten starb. Auch hier muss ich wie eine Kunstturnerin den Bewegungsablauf komplett perfektionieren, den Gegnern im richtigen Moment ausweichen, um zu überleben und nicht zu ertrinken.
Trotzdem: Das Game funktioniert, vielleicht auch, weil alle diese Hüpfspiele wie Drogen wirken. Nur noch diese eine Stelle, nur noch diese Knacknuss, nächstes Mal wird es schon klappen. Und so bin ich trotz all dem Frust immer wieder zu Ori und den wunderschönen Bildern zurückgekehrt. «Ori and the Blind Forest» gehört für mich zu den schönsten Games dieses Jahres, keine Frage. Aber auch zu den schwersten in meiner Game-Geschichte.
«Ori and the Blind Forest» ist ab 12 Jahren und für PC und die Xbox One.