Jags «The Jagged Edge» Jagster kriege ich einfach nicht in den Griff. Der junge Mann war Fussballer, erhielt einen Freistoss nicht und ermordete deswegen einen Spieler und den Schiedsrichter. Zu lebenslang wurde er verurteilt. Er zeigte keine Reue. Nun habe ich ihn am Hals.
Drei Mal ist er im simplen Werkstatt-Kurs durchgefallen. Und er ist ein rasendes Monster: 31 Mal war er in Schlägereien verwickelt. Vier Mal hat er versucht auszubrechen. Fünf Häftlinge hat er zu Tode geprügelt. Die allermeiste Zeit verbringt er deswegen in Einzelhaft, was ihn nur noch wütender macht.
Ich rekrutiere ihn als geheimen Informanten, um ihn zu zähmen. Kaum aus der Einzelhaft entlassen, prügelt er wild um sich; zwei meiner Wachen bleiben schwer verletzt liegen. Und ich hoffe insgeheim, dass er als Informant auffliegt und von anderen Häftlingen erstochen wird.
Es ist eine extreme Emotion, und sie überrascht mich aus dem Nichts. Erst beim Aufschreiben wird mir bewusst, wie monströs die Idee ist. Das berüchtigte Stanford-Prison-Experiment ist plötzlich ganz nah. Es tut weh, in diesen Spiegel zu blicken.
Bestrafen oder rehabilitieren?
«Prison Architect» lässt uns ein Gefängnis bauen und verwalten. Wir beginnen mit einer simplen Gemeinschaftszelle, einer Dusche, einer Küche und einer Kantine. Schritt für Schritt bauen wir das Gefängnis aus, mit Zellenblocks, Krankenstation und Besucherraum. Wir verstärken die Sicherheit mit Mauern, Überwachungskameras, bewaffneten Wächtern und Hunde-Patrouillen. Wir lassen die Gefangenen in Werkstatt oder Wäscherei arbeiten. Wir lehren sie Allgemeinbildung und bauen eine Kapelle.
Wir finanzieren diese Bauten über staatliche Subventionen und müssen dafür bestimmte Bedingungen erfüllen. Oder über Gefängnisarbeit: die Häftlinge stanzen aus Blech Autonummern oder zimmern aus Holz luxuriöse Betten.
Wir entscheiden, was wir wann bauen und wie viel Geld wir dafür ausgeben. Wir können Bedürfnisse der Häftlinge befriedigen oder unterdrücken.
Wir sind also ständig mit der Gretchenfrage des Strafvollzugs konfrontiert: Bestrafen oder rehabilitieren?
Ein Triumph
Ich spiele «Prison Architect» seit mehr als zwei Jahren und einer frühen Alpha-Version. Die fertige Version ist nun nichts weniger als ein Triumph.
Nicht nur, weil das Spiel mit 1.25 Millionen verkauften Exemplaren und 19 Millionen Dollar Umsatz für das kleine englische Studio Introversion ein unvorstellbarer Hit geworden ist.
Sondern auch, weil die hochkomplexe Simulation «Prison Architect» sich wirklich traut, uns in Graubereiche vorstossen zu lassen. Wie kein anderes Spiel erlaubt es Zwischentöne und faule Kompromisse.
Denn viele Spieler beginnen ihr Gefängnis voller Optimismus: Fernseher in jeder Zelle, reichhaltiges Essen, Platz, Licht, Arbeit, Ausbildung, «The Reform through Education Initiative».
Doch dann geht etwas schief oder das Geld aus. Schlägereien, Krawalle brechen aus, Verräter werden erstochen («snitches get stitches»). Wir fühlen uns hintergangen. Unmenschliche Strafmassnahmen gehen uns plötzlich ganz locker von der Hand: tagelange Einzelhaft. Winzige, kahle Zellen. Überall Kameras, bewaffnete Wachen und Hunde-Patrouillen.
Am besten ist der faule Kompromiss
Viele Spiele lassen uns vordergründig die Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen weich und hart, oft als Blau und Rot dargestellt. Doch meist treffen wir diese Entscheidung ganz zu Beginn. Danach bestätigen wir bei jeder Gabelung den eingeschlagenen Weg. Dafür werden wir belohnt mit Spezialfähigkeiten, die nur die durch und durch Roten oder Blauen erhalten. Die vielen einzelnen Entscheidungen sind eine Farce, denn nur die allererste hatte Gewicht.
«Prison Architect» ist so grossartig, weil es nicht in diese Falle tappt – weil es am spannendsten zwischen den Extremen ist.
Die allermeisten Gefängnisse, die ich baue, sind nämlich weder distopisches Höllloch noch zuckerwattiges Reintegrations-Paradies. In jedem wird bestraft, in jedem rehabilitiert. Die einen pendeln etwas mehr in die eine als die andere Richtung, oft auch abhängig von einzelnen Ereignissen. Das Spiel ist am besten in diesen Zwischentönen.
Wie sich Wachen und Häftlinge verhalten, ist in atemberaubender Komplexität modelliert. Handys, Drogen oder behelfsmässige Waffen werden gestohlen, geschmuggelt und gehandelt. Häftlinge haben individuelle Biografien und Bedürfnisse wie Schlaf, Familie oder Unterhaltung. Über den Aufbau der Gefängnisbürokratie erhalten wir neue Handlungsoptionen. Wir können viel automatisieren (bis zur einzelnen Türsteuerung) oder von Hand eingreifen.
Atemberaubende Komplexität, sachte eingeführt
Auch nach mehrjähriger Entwicklungszeit ist das Spiel noch nicht ganz fehlerfrei. Für Einsteiger ist wohl nicht alles sofort verständlich.
Doch die oben erwähnten staatlichen Subventionen sind ein guter Leitfaden. Denn sie sind jeweils an klare Bedingungen geknüpft, was uns eine schöne Todo-Liste gibt: «Baue Zellen für 20 Häftlinge; baue eine Wäscherei und eine Werkstatt». Diese Aufgaben kommen sehr gut gestaffelt und führen uns sachte in die Komplexität der Simulation ein – sie fordern stetig, überfordern nie.
Ausserdem dient ein neuer Story-Modus als gutes Tutorial. Und erfüllt die Aufgabe, uns klar zu machen, dass wir hier nicht einen Rummelplatz oder ein Hotel bauen. Die Figürchen mögen zwar niedlich stilisiert sein, doch das Spiel lässt uns nie vergessen, dass sich in diesem Gefängnis menschliche Dramen abspielen.
Zufällig entstehende Dramen
Die meisten dieser Dramen stammen allerdings nicht aus der Feder von Autoren, sondern entstehen aus dem Spiel heraus. Mein langer Konflikt mit Jags Jagster ist ein Beispiel für solche zufälligen Geschichten, und sie sind eine Stärke des Genres (siehe beispielsweise auch das legendäre «Dwarf Fortress» ). In meinem Gefängnis spielen sich andere Dramen ab als in deinem – das ist aufregend.
Um auf neue Ideen zu kommen, können wir Gefängnisse anderer Spieler herunterladen und ausprobieren. Und in einem reizvollen Perspektivenwechsel können wir statt in die Rolle des Gefängnisdirektors in die eines Häftlings schlüpfen und versuchen, aus dem eben gebauten Gefängnis nun auszubüchsen.
Keine Angst vor dem Thema Todesstrafe
Ausserdem schreckt Entwickler Introversion nicht vor schwierigen Themen wie Todeszellen zurück. Der Umgang damit zeigt beispielhaft das Fingerspitzengefühl, mit dem sie ihre Simulation bauen. Denn Todeskandidaten sind teurer als andere Häftlinge. Besonders zynische Spieler könnten folglich auf die Idee kommen, sich auf sie zu spezialisieren – möglichst viele zum Tod Verurteilte unterbringen, viel Geld für sie kassieren und mit einer ganzen Batterie elektrischer Stühle ein eigentliches Vernichtungslager bauen.
«Prison Architect» verbietet das nicht. Doch jede einzelne Exekution ist ein langwieriger, komplizierter Prozess, der nicht automatisiert und damit nicht industrialisiert werden kann. So zwingt uns das Spiel, die Würde jedes virtuellen Figürchens zu wahren.
Gangs sind im Spiel, Rasse aber nicht
Als eine der letzten grossen Neuerungen vor der endgültigen Veröffentlichung kamen Gangs ins Spiel – Häftlinge können sich einer Gang anschliessen, die dann um Territorium streitet.
Auch wenn die Briten von Introversion mehrfach betont haben, dass «Prison Architect» nicht spezifisch US-amerikanische Gefängnisse simulieren will, übernahm man doch Optik, Währung und Jargon. Deswegen fällt besonders auf, dass das zentralste Thema des amerikanischen Strafvollzugs fehlt: die Rasse der Häftlinge. Die wird in «Prison Architect» zwar über verschiedenfarbige Figürchen angezeigt und beeinflusst manchmal, wer in welcher Gang ist. Doch die Spannungen, die entstehen können, wenn mehrheitlich weisse Wachen mehrheitlich schwarzen Häftlingen gegenüberstehen, ignoriert das Spiel.
Es bleibt der einzige Aspekt, in dem «Prison Architect» mutlos wirkt. Immerhin hat Introversion angekündigt, weiter an dem Spiel arbeiten zu wollen – es besteht also die Hoffnung, dass sie auch hierfür ein funktionierendes System austüfteln.
Herausragende Simulation
Denn «Prison Architect» bleibt eine herausragende Leistung. Es besetzt mutig thematisches Neuland, ohne über den eigenen Anspruch zu stolpern. Es fördert besonders Kompromisse zwischen den Extremen. Das ist aussergewöhnlich.
Was wurde aus Jags Jagster, fragt ihr? Er lebt. Er hat die letzten drei Tage niemanden verprügelt. Er hat den Werkstatt-Kurs endlich bestanden. Er geht regelmässig in die Gefängniskapelle.
Jags hat eine Frau, zwei Töchter und einen Sohn. Sie wurden geboren, als Jags schon länger im Gefängnis war. Ich weiss nicht, was da ablief, aber ich befürchte, es macht Jags wütend.
Seine Rückfallchance liegt bei 97 Prozent. Wir haben noch 89 Jahre Haft vor uns.
«Prison Architect» ist für PC, Mac und Linux. Für iOS- und Android-Tablets soll es «später dieses Jahr» erscheinen. Das Haikiew ist hier.