«Sunset» sollte das Game werden, mit dem das kleine belgische Studio Tale of Tales endlich ein grösseres Publikum findet. Das dem Entwickler-Ehepaar Auriea Harvey und Michaël Samyn neben Kritikerlob auch monetären Gewinn bringen würde. Allein, «Sunset» ist nicht dieses Game geworden, sondern der Karriere-Grabstein zweier aussergewöhnlicher Spiele-Macher. Doch dazu später mehr.
Zuerst: Um was geht es? Im Grunde genommen spielen wir hier einen Hausarbeits-Simulator. Jedenfalls, wenn wir «Sunset» auf seine Spielmechanik reduzieren. Doch damit täten wir den Ambitionen der Macher unrecht. Denn der Haushalt, den wir hier zu führen haben, ist nur die Bühne für die eigentliche Geschichte.
Unsere Spielfigur heisst Angela Burns. Eine studierte Ingenieurin aus Baltimore, die es in die fiktive lateinamerikanische Stadt San Bavon verschlagen hat. Wir schreiben das Jahr 1972 und im Land herrscht nach einem Militärputsch Bürgerkrieg. Ein Aufstand, bei dem Angelas Bruder auf Seiten der Rebellen an vorderster Front mitmischt.
Die perfekte Junggesellen-Wohnung
Doch die Wirren des Krieges erleben wir bloss aus der Ferne: vom Balkon eines Hochhauses aus. Dort können wir zuweilen Explosionen hören und auch Schüsse. Einmal steigen sogar Kampfhelikopter aus den Strassen auf und fliegen direkt an uns vorbei. Doch sobald wir uns umdrehen, und zurück in das Penthouse gehen, das hinter dem Balkon liegt, liegen die Kriegsszenen scheinbar in weiter Ferne. Doch Angela kommentiert das Geschehen in inneren Monologen. So lässt sie uns an ihrem Leben und ihren Gedanken zur politischen Lage des Landes und den Menschen darin teilhaben.
Das Penthouse ist unser Arbeitsort. Es ist der Ort, an dem das Game fast ausschliesslich spielt. Und es ist neben Angela der eigentliche Protagonist des Spiels. Gross ist es, mit zwei Stöcken, modern und luxuriös eingerichtet. An den Wänden hängt moderne Kunst, die Möbel sind edel. Es gibt einen in den Boden eingelassenen Brunnen, eine Sauna, eine grosse Bar. Die Macher des Games sollen Grundschnitt und Einrichtung aus einem «Playboy»-Magazin der 1970er Jahre entnommen haben, wo die perfekte Junggesellen-Wohnung gezeigt wurde.
Romanze oder kühle Distanz?
Das Penthouse gehört einem Mann namens Gabriel Ortega, einem reichen Kunsthändler. Doch wir bekommen Ortega nicht zu Gesicht: Wenn wir in den Stunden vor Sonnenuntergang – vor «Sunset» also – unseren Dienst antreten, ist Ortega ausser Haus, die Wohnung menschenleer. Bloss von Ortega zusammengestellte Listen sehen wir, auf der unseren Aufgaben stehen, die wir einmal die Woche zu erledigen haben: Bilder aufhängen, Post sortieren, die Wohnung mit Blumen schmücken, solche Sachen.
Dabei können wir uns in der Regel zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden, unsere Aufgaben zu erledigen: effizient, aber wenig herzlich. Oder mit mehr persönlichem Engagement, wenn wir uns etwa entscheiden, statt eines abstrakten Bildes eines mit romantischem Motiv an die Wand zu hängen. Oder ein Hemd mit einem herzförmigen Aufnäher zu flicken.
Wie wir uns entscheiden, prägt den weiteren Verlauf der Geschichte. Wählen wir jeweils die effiziente Variante, bleibt unser Verhältnis zu Ortega kühl, wird auf Dauer fast schon feindschaftlich. Wählen wir den warmherzigeren Weg, werden auch die Notizen, die unser Arbeitgeber in der Wohnung hinterlässt, immer persönlicher. Bis das Arbeitsverhältnis schliesslich zur Romanze wird.
Fehler ohne Konsequenzen
Doch hier beginnt das Spielerlebnis auseinanderzufallen: Die binäre Logik – Sachen entweder so zu erledigen oder so – wirkt einschränkend. Manchmal entspricht weder die eine noch die andere Variante dem, was wir eigentlich tun möchten. Manchmal möchten wir das eine tun, aber nicht aus den Gründen, die das Spiel wohl dafür vorsieht.
Manchmal sind die Aufgaben aber auch zu wenig interessant, um überhaupt Lust für die eine oder andere Option aufzubringen. So wird die Beziehung zwischen der Haushälterin und dem Kunsthändler – der eigentliche emotionale Kern von «Sunset» – zur Zufallssache, die sich ohne unser Interesse weiterentwickelt.
Leider gibt es auch sonst wenig im Spiel, das wirklich interessant zu tun wäre. Unsere wöchentlichen Aufgaben lassen sich an einer Hand abzählen. Wir erledigen sie entweder schnell und ohne grosse Aufregung oder gar nicht – weil wir die dazu nötigen Utensilien im grossflächigen Penthouse nicht finden, bevor unsere Schicht bei Sonnenuntergang zu Ende geht. Und Spannung kommt bei der Suche nicht auf, denn Misserfolg hat kaum Konsequenzen: Bleibt eine unserer Aufgaben unerledigt, werden uns beim nächsten Mal einfach wieder drei neue präsentiert, das Game zeigt sich da sehr gleichgültig.
Nie mehr ein kommerzielles Game
Doch Ehepaar Auriea Harvey und Michaël Samyn, die Macher das Games, hatten ein anderes Erlebnis: Sie hätten grossen Spass beim Spielen gehabt, schreiben sie in einem Blog-Eintrag . Nur um gleich darauf anzumerken, spätestens dann hätten sie merken müssen, dass sie mit «Sunset» auf dem falschen Weg sind: «Denn was uns Spass macht ist nie und niemals das, was der grossen Masse der Spieler gefällt.»
Und tatsächlich: Statt in der erhofften Menge von Hunderttausenden von Exemplaren wurde «Sunset» auf der Game-Plattform Steam nur etwas über 4000 Mal verkauft. Nur 4000 Mal. Und das, obschon Tale of Tales extra Spezialisten für die Vermarktung des Games beauftragt angestellt hatten und auf verschiedenen Webseiten gezielt Werbung für das Spiel machten.
Vom dadurch entstandenen finanziellen Schaden wird sich das Studio nicht mehr erholen. Schweren Herzens wollen sich Harvey und Samyn darum aus dem Geschäft mit Computer-Games zurückziehen. Und wenn sie doch nochmal ein Spiel produzierten, so das Ehepaar, dann mit Sicherheit kein kommerziell ausgerichtetes mehr.
Eine Wohnung wie ein lebender Organismus
Dabei gleicht schon «Sunset» eher einem der Games mit künstlerischen Hintergrund, mit denen Tale of Tales bekannt wurden. Und sogar das Wort «Game» geht hier nur schwer über die Zunge. Schliesslich sind unsere Möglichkeiten als Spieler sehr beschränkt. Die Geschichte entwickelt sich in grossen Teilen ohne unser Zutun. Wir werden viel weniger durch unsere Aktionen in das Geschehen einbezogen als durch Angelas innere Monologe.
Und trotzdem werden wir «Sunset» nicht so schnell vergessen. Nicht eigentliche «Game-Momente» bleiben in Erinnerung – Action oder schwere Entscheidungen – sondern eine Stimmung: Wenn die Sonne über San Bavon untergeht und das Penthouse in ein Licht wie Bernstein getaucht ist. Wenn wir ganz alleine durch diese wunderbar eingerichtete Wohnung schreiten, während Angela sich Gedanken macht zum Bürgerkrieg, zur Stellung ihres Arbeitgebers, zur Funktion von Kunst in einer Gesellschaft.
Das sind manchmal recht langfädige Monologe und nicht immer sind deren Gedanken so originell, wie sich die Macher des Spiels wohl gedacht haben. Aber dieses Penthouse! Diese Wohnung, die mit der Zeit wie ein lebender Organismus wirkt, der sich bei jedem neuen Besuch ein wenig verändert zeigt und mit uns zu wachsen scheint. Der immer wieder mit neuen Möbeln und Bildern überrascht. Dieses Luxus-Apartment in einem vom Bürgerkrieg geplagten Land und in einer Zeit, in der die Versprechen der Moderne langsam brüchig werden, dieses Apartment haben Tale of Tales meisterhaft abgebildet.
«Sunset» gibt es für PC und Mac. Das Game kann über die Steam-Plattform im Internet heruntergeladen werden.