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«Input» Fehlgeburt: Mütter und Väter trauern unterschiedlich

Jede fünfte Schwangerschaft in der Schweiz endet mit einer Fehlgeburt. Doch nur wenige sprechen offen darüber, obwohl sich viele Betroffene wünschen, dass das Thema nicht tabuisiert wird. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass Mütter und Väter unterschiedlich trauern.

Es begann mit einem E-Mail von «Input»-Hörerin Fabienne: Die 40-Jährige ist Mutter von zwei Kindern und zwei fehlgeborenen Kindern und regte an, eine «Input»-Folge über Fehlgeburten zu machen: «Es ist etwas, das vielen passiert aber man nicht voneinander weiss. Man müsste einmal allen sagen: Das passiert vielen, du bist nicht allein! Das hilft, wenn man es selber erlebt.» Also treffe ich sie und ihren Mann Matthias (42) zum Interview.

Die beiden sind nicht die einzigen, die ihre Geschichte teilen. Viele Mütter und vereinzelt auch Väter melden sich bei mir. So wie Sabine und Dani:

«Ich wusste nicht, dass man so fest blutet, dass man Angst hat zu verbluten. Ich wusste nicht, dass ich mich so fest vor mir selbst ekeln kann. Ich wusste nicht, dass ich mich so schuldig fühlen kann», sagt Sabine in einer Sprachnachricht. Auch Dani beschäftigten Fragen: «Wir wussten nicht, dass die Vorfreude und die Liebe schon so gross sind. Es hat unseren Lebensplan auf den Kopf gestellt – dürfen wir jemals Eltern sein?»

«Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mann gesagt hätte: Das ist uns auch passiert!»

Dass auch Väter wie Dani oder Matthias von ihren Erfahrungen berichten, finde ich bereichernd. Oft erzählen Frauen, die Perspektive der Männer interessiert mich ebenso.

«Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mann gesagt hätte: Ja, das ist uns auch passiert, wir hatten auch eine Fehlgeburt», sagt Matthias, der gemeinsam mit Fabienne am Küchentisch sitzt: «Man spricht eher über praktische Dinge - wie es ist, wenn das Kind dann da ist.» Ob er sich damals mehr Gespräche unter Männern über Fehlgeburten gewünscht hätte? «Ich mache viel mit mir aus, beziehungsweise mit Fabienne», sagt Matthias, «andererseits wäre es schön, wenn es mehr thematisiert würde.»

Mütter und Väter trauern unterschiedlich

Um mir einen grösseren Überblick zu verschaffen, gehe ich nach Bern und treffe in der Fachstelle Kindsverlust Hebamme und Trauerbegleiterin Anna Margareta Neff. Neff leitet die Fachstelle, sie und ihr Team kennen unzählige Geschichten von Eltern, deren Kinder zu früh gegangen sind. Neff erklärt: «Mann und Frau gehen ganz anders um mit dem Thema Fehlgeburt.»

Anna Margareta Neff

Hebamme und Trauerbegleiterin

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Anna Margareta Neff ist Hebamme und Trauerbegleiterin. Sie leitet die Fachstelle Kindsverlust, wo Eltern und Angehörige früh verstorbener Kinder sowie Fachpersonen beraten werden.

Fachstelle Kindsverlust

Sie illustriert es in Beratungen, in dem sie Kreise zeichnet: Im inneren Kreis, im Bauch der Mutter, ist das Kind. Der Vater befindet sich im äusseren Kreis, um die Mutter herum. Das zeige die verschiedenen Positionen auf, ein Vater habe bis zur Geburt nur indirekten Kontakt mit dem Kind, erklärt Neff.

«Bei einer Fehlgeburt macht sich ein Vater in erster Linie Sorgen um die Mutter: Wie geht es ihr? Auch die Trauer verlaufe anders: «Männer machen es mit dem Kopf, schauen vorwärts.» Mütter hingegen seien sehr im Körper, weil es ja auch im Körper passiere: «Sie spüren eine Leere, ein Verlassensein. Es ist für Eltern wichtig zu wissen, dass eine Mutter anders trauert als ein Vater.»

Matthias Erfahrung deckt sich mit dem, was Neff beschreibt – ihm war es jeweils wichtig, vorwärts zu schauen: «Ich habe vieles verdrängt. In erster Linie war mir wichtig, dass es uns zu dritt gut geht.» Matthias und Fabienne haben zwischen ihren beiden Kindern zwei Fehlgeburten gehabt.

Väter haben andere Schuldgefühle als Mütter

Mütter von fehlgeborenen Kindern erzählen mir von Einsamkeit, Trauer aber auch von schweren Schuldgefühlen: «War es wegen des Weins in der Anfangszeit, als ich noch nicht wusste, dass das Kindlein unterwegs ist? War es der Sprint auf den Bus?», fragte sich Sabine damals.

Auch Annina (38), Mutter eines Kindes und vier fehlgeborenen Kindern hatte extreme Gefühle: «Selbstvorwürfe und Selbsthass: dass ich als Frau das natürlichste der Welt – zumindest wird es einem so vermittelt – nicht hinkriege und auf der ganzen Linie versagt habe.»

Charlotte (40), die drei Fehlgeburten erlebt hat, benennt es klar: «Die Tabuisierung von Fehlgeburten ist auch eine Auswirkung der Leistungsgesellschaft. Fehlgeburten gelten als Fehler. Neben dem Schmerz des Verlustes hat man auch das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.»

Anna Margareta Neff kennt diese Gefühle nur zu gut: «Ich mache praktisch immer die Erfahrung, dass sich eine Mutter, die ihr Kind verliert, fragt: Was habe ich falsch gemacht?», sagt die Hebamme und Trauerbegleiterin. «Wenn sich das Kind nicht gesund entwickelt, wird eine Mutter nie verhindern können, dass es zu einer Fehlgeburt kommt. Es gehört zu einem Frauenleben dazu, dass es zu einer Fehlgeburt kommen darf.»

Nicht nur Mütter, auch Väter haben Schuldgefühle, erklärt Neff: Männer fragen sich, was sie ihrer Frau angetan haben oder haben Schuldgefühle, weil die Frau vielleicht weniger Kinder wollte und sehen sich in der Schuld.

«Ich wusste nicht, dass ich mich als Mann daneben so hilflos fühle, dass ich Angst habe um meine Partnerin.»

Per Mail, in Sprachnachrichten oder in direkten Gesprächen schildern mir Eltern, wie sie Fehlgeburt daheim auf der Toilette erlebt haben:

«Wir wussten nicht, dass es heilsam ist, sich zu verabschieden, statt panikartig die Spülung zu drücken», sagt Sabine. Dani hatte Angst um Sabine: «Ich wusste nicht, dass ich mich als Mann daneben so hilflos fühle, dass ich Angst habe um meine Partnerin.»

Was tun bei einer Fehlgeburt zu Hause? Anna Margareta Neff sagt: «Es passiert vielen Frauen, dass sie im Schock die Spülung betätigen und es danach bereuen. Das sind Notfallstrategien im Schock. Wichtig für Eltern ist, dass sie es als normal betrachten können, es war die Möglichkeit, die ihnen offenstand.»

Neff empfiehlt, ein Sieb oder Ähnliches ins WC zu tun, um aufzufangen und anzuschauen, was herauskommt: «Bereits in der achten Schwangerschaftswoche hat ein Kind Finger und Füsse, man sieht den Kopf. Es ist ein sehr kleines, aber eigentlich schon sehr ausgebildetes Kind. Ich empfehle sehr, das Kind so zu integrieren, dass es ein Teil des eigenen Lebens werden darf.»

Kinder, die gegangen sind, ins Leben integrieren

Das Kind Teil des eigenen Lebens werden lassen, etwa durch Rituale oder in dem Orte geschaffen werden, um zu trauern.

Anna (32), Mutter eines Kindes und eines Sternenkindes, sagt, dass ihr das geholfen habe: «Wir haben unser Sternenkind kremieren lassen», sagt Anna. Die Urne steht bei ihr Zuhause, darauf steht eine Kerze, die sie anzündet, wenn ihr danach ist: «So habe ich einen Ort, wo ich meine Liebe hingeben kann.» Dieser Ort ist Anna wichtig: «Ich habe leere Arme. Es ist eine Liebe da, die keinen Abnehmer findet.»

«Ich habe für jedes Kind, das gehen durfte oder gehen musste, einen Stein in den See gelegt», erzählt Luzia (40), Mutter von zwei Kindern und zwei fehlgeborenen Kindern. «So hat jedes Kind einen Platz, wo es sein kann. Das gab mir Kraft, um Abschied zu nehmen.»

Rituale können helfen, passen aber nicht für alle Eltern: «Es wäre für mich zu viel gewesen, ich wollte pragmatisch sein. Es war so, wie es ist und ich wollte vorwärts schauen», sagt Matthias.

SRF 3 Input

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