Als Kind eines alkoholkranken Vaters hat sich Erika geschworen: «Einen Alkoholiker heirate ich nie!». Es kam anders. Mitte Dreissig heiratet sie einen Alkoholiker. Erika war überzeugt, dass nur sie ihn retten kann: «So wie mein Mann süchtig war nach Alkohol, so war ich süchtig nach dem Lösen seines Problems».
Die Muster der Angehörigen
Die Geschichten der Angehörigen sind oft ähnlich. Das beobachtet Ursula Sutter von der Stiftung «Berner Gesundheit» . Als Psychologin betreut sie nicht nur Suchtkranke, sondern auch deren Eltern, Kinder oder Partner. In ihrem Alltag beobachtet sie drei Phasen, die Angehörige durchlaufen:
In der Entschuldigungsphase wird das Trinkverhalten des Süchtigen entschuldigt, Verständnis dafür aufgebracht. In der Kontrollphase werden Aufgaben und Probleme des Suchtbetroffenen übernommen. Und in der Anklagephase können Angehörige aggressiv werden, empfinden Verachtung oder isolieren sich. Auch Erika kennt diese Muster:
«Dass mein Mann Alkoholiker war, wollte ich nicht sehen. Ich habe es ausgeblendet, mit den Sprüchen, die viele sagen: «Einmal zu viel trinken, ist nicht so schlimm, das machen ja alle». Dann bin in ein Kontrollverhalten gerutscht: Ich habe ganz genau geschaut, was und wieviel er trinkt. Anfänglich habe ich ihn den Alkohol gekauft, damit er nur zuhause trinkt und damit ich den Überblick habe. Und auch, weil es so günstiger kam. Ich habe versucht, alles perfekt zu machen, damit er keinen Grund zum Trinken hat.
Und ich habe ihm gedroht: «Wenn du nicht aufhörst, dann gehe ich». Ich wollte absolut nicht gehen, aber ich dachte, dann hört er auf. Aus meinem Umfeld habe ich mich zurückgezogen, ich wollte so die Alkoholsucht meines Mannes verstecken. Ich habe mich geschämt für die ganze Situation. Auch dafür, dass ich mich auf so einen Mann einlasse. Geblieben bin ich, weil ich meinen Mann gern hatte. Er hatte mich sicher auch gern. Und wer will schon nicht geliebt werden?!»
Den Fokus verschieben
Immer wieder ging Erikas Mann in den Entzug. In diesen Momenten konnte Erika jeweils aufatmen und Kraft schöpfen. Aber bald war es wieder wie vorher. Erika sagt, sie habe sich verloren, sie hatte vergessen, auf sich selbst zu achten.
Das ist eine der grossen Gefahren von Angehörigen, sagt die Psychologin Ursula Sutter: «Die Angehörigen müssen gut auf sich aufpassen, den Fokus immer wieder auf sich richten». Sport machen, Freunde treffen – ohne den Suchtbetroffenen. Oder professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. «Nur so haben sie die Kraft, weiterhin für den Abhängigen da zu sein.»
Hilfe holen
«Eines Morgens bin ich durchs Gebüsch zur Garage gelaufen. Die Vögel haben gepfiffen. Und ich habe mir gedacht: «Ihr blöden Vögel, jetzt hört endlich auch zu pfeifen.» In diesem Moment hat es Klick gemacht und ich dachte, jetzt spinne ich wirklich. Ein paar Tage später ging ich zum ersten Mal in eine Selbsthilfegruppe für Angehörige. Da habe ich die Geschichten der anderen angehört, da habe ich zum ersten Mal wirklich realisiert, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Er ist Alkoholiker und trinkt, weil er muss. Ich bin nicht schuld daran.
Ich kam zur Überzeugung, dass die einzige Verantwortung, die ich habe, die Verantwortung für mich ist. Und ich habe gelernt, dass ich die Verantwortung für sein Verhalten, für seine Trinkerei ihm überlassen muss, weil er sonst gar nicht realisiert, dass er ein Problem hat. Was mich bei diesem Prozess am meisten geschmerzt hat: Als ich realisiert habe, dass ich mit meiner Art zu helfen, meinem Mann hätte helfen können, sich zu Tode zu trinken. Weil er nicht konfrontiert wurde mit den Problemen seiner Trinkerei. Dieser Gedanke war schwierig auszuhalten.»