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Fernweh – oder: Die Psychologie des Reisens
Aus Input vom 27.06.2021. Bild: Colourbox
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Fernweh und seine Gründe Reisepsychologin: «Reisen bringt unsere Sinne in Balance»

Während den letzten Monaten war Reisen schwierig. Nun wird die Quarantäne-Liste vom BAG immer kürzer und die Leute können ihr lang gehegtes Fernweh stillen. Die Reisepsychologin Martina Zschocke erforscht, warum es uns in die Ferne zieht.

Martina Zschokke

Martina Zschokke

Reisepsychologin

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Martina Zschocke ist seit 2010 Professorin für Freizeitpsychologie und Freizeitsoziologie an der Hochschule Zittau/Görlitz. Sie studierte in Leipzig, den USA und den Niederlanden. Schwerpunkt Ihrer Forschung sind Freizeitpsychologie, die psychischen Komponenten von Auslandsaufenthalten und Kreativität und Kontextwechsel. Sie veröffentlichte drei Bücher und zahlreiche Artikel und war bei zwei weiteren Büchern Mitherausgeberin.

SRF: Was passiert mit uns, mit unserer Seele, unserem Geist, vielleicht auch mit dem Körper, wenn wir wieder auf Reisen gehen können?

Martina Zschokke: Wenn wir jeden Tag nur das Gleiche sehen, hören, riechen, fühlen, dann stumpfen wir ab. Das, was wir zu oft gesehen haben, nehmen wir gar nicht mehr wahr. Das andere Licht, die anderen Gerüche und Farben in anderen Ländern öffnen unsere Sinne wieder. Das ist etwas sehr Wichtiges in unserer digitalisierten Welt: Die Sinne zu öffnen, sich selbst zu öffnen, mit allen Kanälen, die man hat.

Nicht zuletzt durch das Smartphone sind wir im Alltag sehr stark auf den Sehsinn fokussiert. Das können wir auf Reisen also wieder ändern.

Zahlreiche Studien bestätigen, dass es eine sogenannte Hypertrophie des Sehsinns gibt: Wir nehmen über den Sehsinn viel mehr wahr als über andere Sinne. Reisen intensiviert nicht nur unsere Sinne und damit unser Leben. Es bringt die Sinne wieder in Balance.

Es ist eindeutig nachweisbar, dass Reisen antidepressiv wirkt.
Autor: Martina Zschokke Reisepsychologin

Hat Reisen noch andere Effekte auf die Psyche?

Es ist eindeutig nachweisbar, dass Reisen antidepressiv wirkt. Weil man nicht mehr um sich selber kreist, nicht mehr ständig über sich nachdenkt und grübelt. Auf Reisen muss man sich stärker nach aussen orientieren. Wenn wir uns dann noch bewegen – mit dem Zug oder dem Fahrrad – dann kommt es zu einem Flow-Erleben. Das intensiviert unsere Wahrnehmung. Dadurch erinnern wir uns auch besser.

Sie sprechen jetzt vor allem von grossen, langen Reisen – wie ist es mit Ferien von zwei oder drei Wochen? Ist der Effekt derselbe?

Das intensivere, freie Leben mit Neugier und Aufmerksamkeit, Lebensintensivierung und Wahrnehmungsstimulierung – das können Sie durchaus in einer kürzeren Reise erleben. Ebenso eine höhere kognitive Flexibilität. Das Identitätsstiftende, das Verändernde, das finden Sie eher auf längeren Reisen. Der richtige Erholungseffekt setzt üblicherweise erst nach zwei, drei Wochen ein.

Wenn ich woanders bin, kann ich auch jemand anderes sein. Sei es auch nur für zwei Wochen. Ich kann mich also temporär neu erfinden, Abstand von mir selbst gewinnen. Aber auch das Gegenteil – ich kann mich besser kennenlernen.

Einerseits kann es beim Reisen zu einer Selbstaktualisierung kommen. Dadurch, dass man nicht mehr in diesen Alltagsmustern feststeckt, hat man die Möglichkeit, Distanz zu gewinnen gegenüber seinem eigenen Leben, neu zu justieren. Wo will man hin? Was sind die eigenen Werte? Andererseits kann man auf Reisen auch jemand anderes sein oder besser: andere Seiten von sich leben. Das sind oft Seiten, die schon vorhanden, aber durch den Alltag verschüttet sind. Max Frisch hat mal gesagt, dass er auch reist, um nicht von anderen schon immer gekannt zu werden. Um wieder frei sein zu können.

Das Gespräch führte Mariel Kreis.

Radio SRF 3, Sendung «Input», 27.6.2021, 20 Uhr

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