Der Wecker klingelt irgendwann in der Früh. Es ist ziemlich düster, Patrick «Sigi» Signer wirft sich in seine Arbeitskleider. Er wohnt irgendwo in einem Aussenquartier von Zürich, vielleicht Seebach, vielleicht im Triemli, auf jeden Fall hat er gerade das Tram mit der Nummer 14 verpasst. So ein Seich, also noch ein Energydrink aus dem Selecta-Automaten und eine Parisienne Gelb. Büezer-Zmorge 2019.
Eine unumgängliche Wahl
Den Büezer Sigi spielt Joel Basman , es ist eine Zürcher Rolle. Beim Casting dürfte sich die Frage nach dem Hauptdarsteller wohl niemand gestellt haben – ohne Basman, selbst Kind des Kreis 4, des Zürcher Arbeiter- und Rotlichtviertels, hätte es den Film wahrscheinlich gar nie gegeben. Und zwar nicht, weil der Stoff nicht wunderbar nach Zürich passen würde – sondern weil es wohl keinen treffenderen «Sigi» gegeben hätte.
Mitten im Milieu
Verantwortlich für diese Figur ist Hans Kaufmann , junger Zürcher Regisseur. «Der Büezer» ist sein erster Langspielfilm. Bisher machte er fast ausschliesslich Werbung, jetzt «paff», direkt rein ins Arbeiter-Millieu, über 80 Minuten rund um die Zürcher Langstrasse.
Mittenrein in die «Sonne», eine Beiz, in der sich die Zuhälter, die Freier, die Prostituierten und eben die Büezer nach (oder vor) getaner Arbeit bei der «Stange» treffen, eine grosse Familie, d ie menschlichen Abgründe spielen hier erst einmal keine Rolle , «gschwätzt» wird «Zürischnurre». Der Name von Kaufmanns Produktionsfirma lautet, fast logisch, Milieu Pictures.
Alleine gegen die Stadt
Sigi lebt alleine in einer unaufgeräumten Wohnung, seine Eltern sind vor Kurzem verstorben. Nach der Arbeit zündet er sich erst einmal einen Joint an – «zum chli abecho.» Auf dem Bau prahlt ein Arbeitskollege, wie er es am Wochenende mit einer junge Dame in der ganzen Wohnung getrieben hätte, richtiger Bauarbeiter-Jargon, unverfälscht, ungekünstelt.
Sigi ist das eher peinlich, er ist ein stiller, zurückhaltender und vor allem anständiger, rechtschaffener junger Mann . Dennoch lädt er sich auf Anraten seines Kumpels Tinder runter, trifft prompt eine hübsche, junge Frau in einem hippen Banker-Lokal. Die Dame arbeitet in der Werbung, «Meetings, PPMs, Kunden treffen» – und möchte von Sigi, dem Büezer im Blaumann, nach ein wenig Smalltalk nichts mehr wissen.
Man müsse sich halt als was «Besseres» ausgeben, sagen die Kollegen – gesagt, getan. So läuft das im hippen Zürich. Sigi stösst auf die genauso schöne Hannah, sie verteilt Flyer am Helvetiaplatz. Von nun an mimt er für seine Angebetete auch den Werber, «Meetings, PPMs und so...». Ob das gut kommt?
Zunehmend frustriert beobachtet Sigi, dass seine grund-ehrliche Art in dieser Stadt wohl nicht gefragt ist. Lange genug hat er auf Zürich, seine Frauen und sein Geld gewartet, gearbeitet, um sich schliesslich bloss eine schäbige Wohnung leisten zu können. Und das ist nun der Dank?
Der Schweizer Scorsese wohnt in 8004
Zürich, die Stadt zwischen Sein und Schein, zwischen Banken und schicken Cafés am Paradeplatz, Szene-Badis und 24-Stunden-Clubs – und mittendrin leben die Dienstleister, die Bauarbeiter, die Büezer – Status? Fehlanzeige. Regisseur Kaufmann wirft sich mit voller Wucht in dieses Spannungsfeld, er lässt seinen unsicheren, verletzlichen Protagonisten in einer brutalen, dunklen, gefrässigen Stadt als Einzelkämpfer antreten.
Wenig verwunderlich, dass die meisten Szenen irgendwann in der Dunkelheit oder während der Dämmerung angesetzt sind, irgendwo in Zwielicht, wo sich dieses Spannungsfeld zwischen Anzügen und Sanitär-Montur wie Blitze auf dem Screen entlädt.
Parallelen zu De Niro
Kaufmann holt das Leben des einfachen, stets von Selbstzweifeln geplagten Sigi dorthin, wo's wehtut. In eine Stadt, die genau so gut eine Schweizer Version von Scorseses New York in «Taxi Driver» (1976) sein könnte. Auch hier fühlt sich ein «Büezer», ein einfacher Taxifahrer (Robert De Niro), zunehmend von der grosstädtischen Wegwerf-Gesellschaft missverstanden:
Hört zu, ihr Wichser, ihr Scheissköpfe. Hier ist ein Mann, der sich nicht alles gefallen lässt. Ein Mann, der sich gegen den Abschaum, die F*tzen, die miesen Schweine, den Dreck und die Scheisse wehrt –hier ist jemand, der sich wehrt!
Bickle greift zum Äussersten, die Ungleichheit zwischen Arbeitertum und der Upper Class ist für ihn nicht mehr tragbar. Elegant zwischen dem Kultfilm mit dem jungen Robert DeNiro und Kurt Frühs Kreis-4-Paradestück «Bäckerei Zürrer» (1957) bewegt sich Hans Kaufmann – und lässt tiefer in die Seele einer Schweizer Stadt blicken, als es bisher irgendein Spielfilm-Regisseur in diesem Land geschafft hat.
Weiterer «Milieu»-Film in Planung
Für die Zukunft verspricht Kaufmann übrigens noch mindestens einen weiteren Film seiner «Milieu Pictures» – am liebsten wieder mit Joel Basman in der Hauptrolle, wie er kürzlich in einem Interview verraten hat. Der Schweizer Scorsese lebt und wirkt in 8004 – oder ist es nur ein Zufall, dass sich Hans Kaufmann auf seiner Website mit 70er-Jahre Mähne und Burt-Reynolds-Gedächtnis-Bart vor New Yorks Skyline präsentiert?