Der Hugo Award ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für Science-Fiction-Autoren. Seit 1953 wurde er an Genre-Grössen wie Philip K. Dick, Ursula K. Le Guin, Isaac Asimov oder William Gibson verliehen. 2016 fand sich unter den potenziellen Preisträgern ein neuer Name: Chuck Tingle, nominiert für die Kurzgeschichte «Space Raptor Butt Invasion». In 4100 Worten wird darin die Liaison eines muskelbepackten Astronauten mit einem Velociraptor erzählt.
Nicht ganz so lustig wie der Stoff der Geschichte war der Hintergrund der Nominierung. Tingle war nämlich von rechtskonservativen Sci-Fi-Autoren und -Lesern ins Rennen geschickt worden, mit dem Ziel, die Hugo-Verleihung ins Lächerliche zu ziehen. Die Gruppe mit dem Namen «Rabid Puppies» beklagten, Science-Fiction-Verleger seien politisch zu links ausgerichtet. Das habe zur Folge, dass bei der Hugo-Verleihung Minoritäten und Frauen bevorzugt würden.
Neue Werke im Wochentakt
Doch mit der Nominierung von Chuck Tingle schnitten sich die Rabid Puppies ins eigene Fleisch. Der Autor liess sich nicht zum Spielball machen und schlug auf seine Weise zurück. Zuerst mit einer «Slammed In The Butt By My Hugo Award Nomination» betitelten Kurzgeschichte, in der er sich über die Puppies und ihren Anführer Vox Day lustig machte. Dann mit einer Reihe von Tweets, die Tingles eigenes Universum – das Tingleverse – um eine teuflische Figur namens Voxman reicher machten.
Schliesslich verkündete Tingle, dass Zoe Quinn den Hugo-Award für ihn entgegennehmen werde, sollte «Space Raptor Butt Invasion» tatsächlich gewinnen. Quinn hatte zuvor mit Indie-Games wie «Depression Quest» auf sich aufmerksam gemacht und war im Zug der sogenannten Gamergate-Kontroverse zur Hassfigur für misogyne Reaktionäre aller Art geworden – eine Gruppe, die sich mit den Rabid Puppies wohl überschneidet.
Auch wenn Tingle am Ende ohne Hugo-Award ausging (Naomi Kritzer gewann mit der Kurzgeschichte « Cat Pictures Please »), ist sein Name dank der Affäre einer grösseren Öffentlichkeit bekannt geworden. Und damit auch seine seit 2014 erschienenen Werke, die zusammengenommen das Tingleverse ausmachen und denen der Autor fast im Wochentakt neue zukommen lässt – mit Titeln wie etwa «Pounded In The Butt By My Hugo Award Loss».
Eine Subkultur absurder Erotika
Tingles Autorenseite bei Amazon listet heute 95 Werke auf, die als E-Books, Taschenbücher oder Audiobücher erhältlich sind. Was mit homoerotischen Dinosaurier-Geschichten begonnen hat («My Billionaire Triceratops Craves Gay Ass») ging später über in Stories, in denen Männer sich in anthropomorphisierte Dinge wie Züge, Flugzeuge oder Motorräder verlieben («Trained By The Living Biker Train»). Kulturelle Phänomene («Pokebutt Go: Pounded By 'Em All ») werden ebenso behandelt wie politische Fragen («Pounded by the Pound: Turned Gay by the Socioeconomic Implications of Britain Leaving the European Union»).
Mit seinem Werk gehört Tingle zu einer wachsenden Gemeinde von Autoren, die ihre Bücher und Kurzgeschichten im Selbstverlag bei Amazon veröffentlichen. Gerade was absurde erotische Fiktion angeht, hat sich dort in den letzten Jahren eine regelrechte Subkultur entwickelt.
Neben Tingle gibt es etwa Leonard Delaney , der über Sex mit Apples iWatch oder Microsofts ungeliebtem Assistenten, der Briefklammer Clippy schreibt. Oder Virginia Wade , deren Bigfoot-Erotika es auch auf Deutsch zu lesen gibt. In guten Monaten soll Wade mit ihren Büchern bis zu 30'000 Dollar verdienen.
Ein Kribbeln in der Wirbelsäule
Während es sich bei Virginia Wade zweifelsohne um eine echte Person handelt, ist bis heute nicht klar, wer sich eigentlich hinter der Figur Chuck Tingle verbirgt. Die Kurzbiographie auf seiner Homepage beschreibt ihn bloss als Taekwondo-Grossmeister mit einem Doktortitel in holistischer Massage. Tingle lebt demnach in Billings, im US-amerikanischen Bundesstaat Montana, und hat Sport, Schachspielen und Rucksackurlaube zum Hobby.
Viel mehr ist über den Mann nicht bekannt, der online mit der Stock-Foto eines Kampfsportlers in weisser Jacke auftritt. Eine Interviewanfrage von SRF Digital lief leider ins Leere. Obschon sich Dr. Tingle in einer ersten Antwort per E-Mail durchaus offen gab: «hello buckaroo name of Jurg! thank you for writing i would love to do a telephone interview for your big time show this is a GOOD WAY. […] thank you for making love real with big time show! –chuck» (Tingle nennt seine Fans «Buckaroos» – ein anderes Wort für Cowboy. Die Schreibweise der E-Mail ist unverändert.)
Witzbold oder autistischer Savant?
Dem Guardian gegenüber bestätigte der Autor immerhin, dass sein Nachname ein Nom de Plume ist – ein Pseudonym, das wohl auf den «Tingler» anspielen soll. So bezeichnet Tingle eine Geschichte, die dermassen erotisch ist, dass sie dem Leser unweigerlich ein heftiges Kribbeln – «a sharp tingle» – die Wirbelsäule herunterschickt. Nach seiner Hugo-Nominierung stellte sich Tingle in einem sogenannten «Ask Me Anything» auf der Internet-Plattform Reddit seinen Fans. Doch auch bei dieser Gelegenheit wurde kaum mehr über ihn bekannt, als dass ihm nichts wichtiger scheint, als der Welt zu zeigen, dass Liebe tatsächlich existiert («Love is real»).
Ein zweites «Ask Me Anything» mit Tingles angeblichem Sohn Jon gab dagegen ein paar verstörende Einblicke in das vermeintliche Leben des Autors. Laut Jon ist Tingle ein autistischer Savant, der an einer schizophrenen Störung leidet. Sein Vater sei sich der Absurdität seiner Werke wohl bewusst und das Schreiben und eigenhändige Publizieren der Texte bereite ihm grosse Freude, so Jon. Ausserdem liess Chuck Tingle ausrichten, die gedruckten Ausgaben seiner Bücher würden sich hervorragend als Weihnachtsgeschenke eignen.
Eine Full-Motion-Video-Dating-Sim
Wer auch immer sich hinter der Figur von Chuck Tingle verbirgt, die Saga wird bald um ein Kapitel reicher: Vor wenigen Tagen hat Zoe Quinn angekündigt , dass sie mit Tingle an einem Computergame arbeitet – an einem Full-Motion-Video-Game notabene. Full Motion Video (FMV) bezeichnet eine Technik, bei der Spielszenen nicht vom Computer berechnet werden. Stattdessen sind vorher aufgezeichnete Videoszenen zu sehen, durch die sich der Spieler steuern muss.
Mit Games wie « Night Trap » erlebten FMV-Games Anfang der 1990er Jahre einen kurzen Frühling. Doch die Spiele versprachen mehr, als sie dann halten konnten – ihre Filmsequenzen zeichneten sich vor allem durch kaum vorhandene Produktionsstandards aus. Für die Spielfiguren wurden meist TV- und B-Movie-Schauspieler verpflichtet, auch die Spezialeffekte wirkten selten mehr als amateurhaft. Heutige Games stellen diese Szenen auch mit ihren computergenerierten Grafiken allemal in den Schatten.
Chuck Tingles Tingleverse wird sich in so einer Umgebung aber wie zu Hause fühlen. Über den genauen Inhalt des Games ist noch nichts bekannt, ausser dass es eine Dating-Simulation mit Figuren aus Tingles Geschichten werden soll. In einem Video , das Vice Gaming über das Projekt gedreht hat, sind unter anderem ein Einhorn mit Polizistenmütze und ein Gorilla im Piratenkostüm zu sehen, beide gespielt von muskulösen jungen Männern. Es gab schon schlechtere Ausgangsbedingungen für ein Computergame.