Drogenhandel, Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Strassengangs, Messerstechereien – Themen, die durchaus in Rap-Songs vorkommen. Was in den USA schon länger so ist, kann Rapper*innen auch immer häufiger in Grossbritannien zum Verhängnis werden: In den letzten Jahren wurden immer mehr Drill-Videos – ein Subgenre des Traps – als Beweismittel vor Gericht verwendet. Denn die provokanten Rap-Texte werden von Staatsanwälten als autobiografische Geständnisse für Verbrechen, Gewaltandrohungen oder Beweise für Bandenzugehörigkeit präsentiert.
Die Polizei, Staatsanwälte und Gerichte erkennen den künstlerischen Wert von Rap-Musik nicht an.
Der britische Nachrichtensender BBC hat rund 70 Prozesse in Grossbritannien untersucht, in denen Drill als Beweismittel verwendet wurde, und in welchen es meistens um den Vorwurf des Mordes ging. Die grosse Mehrheit der Angeklagten waren junge «People of Color». Und genau da liegt ein Problem: Einige Anwält*innen und Verteidiger*innen sind nämlich der Ansicht, dass den Angeklagten dadurch keine faire Verhandlung ermöglicht werde.
Abenaa Owusu-Bempah, eine Expertin für strafrechtliche Beweise an der London School of Economics, glaubt, dass viele Staatsanwälte das ausnützen würden, um bereits existierende Stereotypen gegenüber jungen schwarzen Männern zu verstärken. Und: «Polizei, Staatsanwälte und Gerichte erkennen den künstlerischen Wert von Rap-Musik nicht an oder schätzen ihn nicht.» Studien in den USA hätten nahegelegt, dass die Verwendung von Rap-Beweisen sehr vorurteilsbehaftet ist, weil die Menschen Rap negativer sehen als andere Musikgenres.
Die Forschung von Owusu-Bempahs zeigt, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, in denen Texte als Beweismittel präsentiert wurden, nicht über das Verbrechen selbst angeklagt werde. Stattdessen werden sie als «Beweis für einen schlechten Charakter» angeführt, wie beispielsweise die Neigung zu Gewalt oder die Mitgliedschaft einer Gang. Denn alleine das Schreiben von Songtexten und dazugehörige Video aufzunehmen ist keine Straftat – es sei denn, es handelt sich um konkrete Morddrohungen oder unerlaubten Besitz einer Waffe im Video. Trotzdem würden solche Videos vor Gerichten als Beweis für Gewaltbereitschaft angesehen werden, so Owusu-Bempahs, während andere Kunstformen mit gewalttätigen Inhalten wie Filme, Bücher oder Videospiele nicht auf diese Weise betrachtet werden würden.
Urteil: Schuldig
Kommen wir zu einem Beispiel aus dem Jahr 2019. In London kommt es zu einer Auseinandersetzung mehreren Jugendlichen und beim darauffolgenden Amoklauf kommt ein Mann ums Leben. Daraufhin werden fünf Personen wegen Mordes angeklagt und vor Gericht gestellt, drei von ihnen sind gerade erst 16 Jahre alt. Und: Nicht alle waren an der eigentlichen Messerstecherei beteiligt.
Die Staatsanwaltschaft wollte aber beweisen, dass sie gemeinsam des Mordes schuldig waren, denn der Auslöser des Attentats sei ein Konflikt zwischen rivalisierenden Strassengangs gewesen, so das Gericht. Genau hier kam ihre Musik ins Spiel: In einem Drill-Video, das einer der Angeklagten auf YouTube hochgeladen hatte, rappte er über diesen Hass gegenüber der rivalisierenden Gang – unter anderem über eine tödliche Bandenschiesserei. Die Liedtexte wurden im Gericht als Beweis präsentiert – und alle fünf Angeklagten des Mordes für schuldig gesprochen.
Genau dieses Urteil warf bei Experten und Verteidigern Fragen auf. Sei es fair, dass eine musikalische Subkultur als Beweis für die Beteilung an einem Verbrechen verwendet werde? Ermutige Drill – im Gegensatz zu anderen Musikgenres – häufiger zu Gewalttaten? Verteidiger des UK-Drills argumentieren, es sei eine Kunstform, die nicht wörtlich genommen werden könne. Schliesslich sang auch schon Mick Jagger darüber, wie er «ein Messer in deine Kehle steckt» – was nicht heisse, dass er in einer Gang verwickelt war.
Überwachung von Musikvideos
Für die britische Polizei und Strafverfolgsbehörde bedeutet das sofortige Teilen von Drill-Videos in Sozialen Medien, dass gewalttätige Auseinandersetzungen schneller eskalieren können. Denn Gangs würden zunehmend Social Media nutzen, um die Bandenkultur zu fördern. Aus diesem Grund hat die Polizei angefangen, Drill-Videos zu überwachen. So konnte BBC ausfindig machen, dass die Londoner Polizei seit November 2016 über 500 Videos mit «potenziell schädlicher Inhalte» von Social Media hatte entfernen lassen. Sie würden so eingreifen, um einen Teil der Gewalt auf den Strassen Londons zu stoppen.
Da kommt die Frage auf: Wollen sie Drill-Musik unterdrücken oder sogar die freie Meinungsäusserung zensieren? Nein, so die Polizei: «Wir sind nicht hier, um Drill-Musik zu unterdrücken. Es ist in Ordnung, sie als Ventil zu benutzen, aber man sollte darüber nachdenken, was man sagt.»
Der «Criminal Behaviour Order»
Doch genau da fühlen sich Drill-Künstler*innen eingeschränkt: Die Musik würde es ihnen erlauben, ihre Gefühle über Armut, Kriminalität und das Trauma, das sie um sich herum sehen, auszudrücken. Schliesslich stammen viele Drill-Rapper*innen aus Milieus, wo Gewalt und Drogen zum Alltag gehören. Drill würde ihnen helfen, das zu verarbeiten – und vielleicht auch eine Karriere zu starten. Doch genau diese wird von der Polizei eingeschränkt.
Bestes Beispiel dafür ist der britische Rapper Digga D, Mitglied der Londoner Gang 1011, der wegen unterschiedlicher Gewaltdelikten im Gefängnis war. Da aber bei seinem Prozess ebenfalls Rap-Texte als Beweismittel verwendet wurden, hat das längerfristige Auswirkungen auf seine Musikkarierre: Nebst seiner Gefängnisstrafe erhielt er als erster Musiker der britischen Geschichte einen sogenannten «Criminal Behaviour Order» – eine gerichtliche Anordnung, die es ihm verhindert, über bestimmte Dinge in seinen Texten zu sprechen und bestimmte Orte in seinen Videos darzustellen. Die Regel geht sogar noch weiter: Er darf keine Musik oder Videos veröffentlichen, ohne die Polizei vorher zu informieren. Wenn die Musik gegen die Bedingungen verstösst, können sie seine Musik entfernen und ihn verhaften.
Über diese Entwicklung macht sich Eithne Quinn, Akademikerin an der Universität von Manchester, Sorgen. Drill sei zwar eine sehr gewalttätige Form von Rap, doch genau dieses provokative Gehabe der Rapper sei Teil des populären Genres und könne nicht wortwörtlich genommen werden: «Das hat keinen Platz im Gerichtssaal». Sie hat darum das Forschungsprojekt «Prosecuting Rap» ins Leben gerufen, um auf die Gefahren zu hinzuweisen, die sie sieht, wenn man sich auf Drill und Rap für Gerichtsaussagen verlässt. Natürlich gäbe es «vereinzelte Fälle, in denen Drill zu Gewalt angestiftet hat», aber in den meisten Fällen gäbe es keinen Zusammenhang zwischen einem Rap und einer Gewalttat. Gewalt und Waffen seien häufige Themen in der Rap-Musik, aber Staatsanwälte würden das oft missverstehen und das mit einer kriminellen Persönlichkeit verbinden, so Quinn. «Rap ist eine komplexe und verschlüsselte, aber sehr provokative Art der Sprache, die nachweislich bei einem jugendlichen Publikum extrem beliebt ist.»
Ein weiterer Aspekt, den Owusu-Bempah besorgniserregend findet, ist, dass die Rap-Beweise nicht einmal neu sein müssen. Sie erinnert sich an einen Fall, bei dem ein zwei Jahre alter Videobeweis für einen schlechten Charakter vorgelegt wurde. Der Angeklagte sei im Video gerade mal 14 Jahre alt gewesen und sie sehe nicht, dass das repräsentativ für den Charakter oder den Geisteszustand des damals 16-Jährigen gewesen sei. Sie arbeitet darum an Empfehlungen, um die Verwendung von Rap-Beweisen in Prozessen von schwerer Kriminalität zu regeln, um Fehlurteile zu verhindern. «Richter müssen den Kontext der Beweise stärker berücksichtigen und Beweise viel gründlicher prüfen», sagt sie. Sie hofft sich, dass durch Sensibilisierung der Öffentlichkeit diese – wie sie es nennt – nachteilige und rassistische Praxis, Rap-Beweise in Strafprozessen in Grossbritannien zu verwenden, irgendwann aufhören wird.