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Liebe Grüsse aus dem Todestrakt
Aus Junge Popkultur, urbanes Leben vom 09.11.2020. Bild: connectdeathrow
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Kompass Liebe Grüsse aus dem Todestrakt

Brieffreundschaften mit zum Tode verurteilten Häftlingen stehen seit Jahren hoch im Kurs. In der Hintergrundsendung «Kompass» treffen wir eine Frau, die seit 19 Jahren in Kontakt mit Mördern und Vergewaltigern steht und möchten von einer Ethikforscherin wissen, ob das vertretbar ist oder nicht.

Auf den ersten Blick könnten die Briefe aus der Feder von jeder*m stammen: Es wird über das Wetter diskutiert, vom Lieblingsessen geschwärmt und manchmal auch ein Witz gemacht. Die Brieffreunde von Ines Aubert sind aber alles andere als gewöhnlich. Sie schreibt seit 19 Jahren mit verurteilten Verbrechern aus dem amerikanischen Todestrakt. Insgesamt hat sie schon 14 solche Brieffreunde gehabt – vom Familienmörder über den Kidnapper bis hin zum Vergewaltiger.

In der Hintergrundsendung «Kompass» (oben) erzählt die Heilpädagogin von ihrem aussergewöhnlichen «Hobby», das schon so manch heftige Begegnung mit sich gebracht hat. Gleichzeitig stellt sich die Ethikforscherin Dr. Anna Maria Riedl der Frage, ob solche Brieffreundschaften vertretbar sind oder nicht.

«Penpalships» für alle

Ines Aubert

Ines Aubert

Begründerin «connectdeathrow»

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Ines Aubert (59) arbeitet als Heilpädagogin. In ihrer Freizeit widmet sie sich Brieffreundschaften mit Häftlingen im Todestrakt und dem damit verbundenen Projekt «connectdeathrow», das sie ins Leben gerufen hat.

Dazu bewegt hat sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben. Weil ihre «gewöhnlichen» Brieffreund*innen nach kurzer Zeit immer schlapp machen, hält Ines Aubert Ausschau nach längerfristigen «Penpalships». Fündig wird sie bei «Lifespark», einer Schweizer Organisation, die briefliche Kontakte zu amerikanischen Todeskandidaten vermittelt. Hier findet sie ihren ersten Brieffreund – ein Mörder, der drei Personen erschossen hat. Mit 82 Jahren ist er ihr ältester Brieffreund und wartet schon seit über drei Jahrzehnte auf seine Hinrichtung.

Bei «Lifespark» kann sich jede interessierte Person melden, die über 18 Jahre alt ist. Zuerst klärt man bei einem telefonischen Vorgespräch die Beweggründe, danach werden Unterlagen mit Tipps und wichtigen Hinweisen (z. B. zu möglichen «Fallen») verschickt. Wenn alles passt, gibt's im Anschluss die oberste Adresse von der Warteliste. Die ist ziemlich lang und so kommt es vor, dass sich ein Häftling bis zu zwei Jahre gedulden muss, bevor er jemanden zum Schreiben hat.

Nach vielen Jahren im Vorstand von «Lifespark» begründet Ines Aubert ein eigenes Projekt namens «connectdeahrow». Dabei geht es ebenfalls um die Vermittlung solcher Brieffreundschaften, allerdings an unter 18-Jährige. Hier passiert der Austausch stets über Ines Aubert und die Todeskandidaten werden gezielt ausgewählt und vorbereitet. Insgesamt können drei Briefe hin und her geschickt werden, dann ist der Kontakt wieder vorbei.

Eine Lektion übers Menschsein

Wer meint, dass religiöse Absichten hinter dem Engagement von Ines Aubert stecken, täuscht sich. Zwar spielen christliche Grundwerte wie Nächstenliebe durchaus eine Rolle, aber es gehe ihr nicht um die Rettung verlorener Seelen. Vielmehr möchte sie mehr übers Menschsein lernen und den Häftlingen noch eine Perspektive bieten.

Die Gräueltaten sollen dabei auf keinen Fall entschuldigt werden und eine Bestrafung sei durchaus angebracht. Die Todesstrafe findet sie jedoch nie das Richtige. Nicht nur, weil das Leben wegen eines Fehltrittes beendet wird, sondern auch, weil keinerlei Möglichkeit zur Weiterentwicklung oder Einsicht besteht.

Bei meinem zweiten Brieffreund war ich an der Hinrichtung dabei.
Autor: Ines Aubert Begründerin «connectdeathrow»

Beim brieflichen Austausch bleibt es aber nicht: Jeden Sommer (mit Ausnahme von diesem Jahr) reist Ines Aubert mit ihrem Mann durch die Staaten und besucht ihre Brieffreunde im Todestrakt. Für sie eine bereichernde Auszeit von ihrem Alltag – aber gleichzeitig auch die Chance, um den Menschen hinter der Tat noch mehr zu spüren. Falls möglich, trifft sie auch Opfer oder Angehörige ihrer Brieffreunde. Das, weil ihr beide Seiten am Herzen liegen und sie nicht nur mit und über die Gefangenen sprechen möchte.

Ines Aubert und einer ihrer Brieffreunde
Legende: Bitte lächeln! Ines Aubert zu Besuch bei einem Brieffreund in Florida. Ines Aubert

Darf man das?

Dr. Anna Maria Riedl

Dr. Anna Maria Riedl

Ethikforscherin

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Anna Maria Riedl (37) hat Theologie, Germanistik und Geschichte studiert. An der Universität Luzern ist sie als Lehr- und Forschungsbeauftragte der Professur für Theologische Ethik angestellt.

Doch ist es wirklich vertretbar, eine Freundschaft mit einem Verbrecher aufzubauen? Hat er diese Briefe überhaupt verdient? Ethikforscherin Dr. Anna Maria Riedl findet schon. Gerade in einer existenziellen Notsituation sei es wichtig, einem Menschen zu zeigen, dass er immer noch ein Mensch ist und eine unantastbare Würde hat – egal, was vorher war. Ausserdem sei die Todesstrafe ein sehr problematisches Konstrukt, da sie alles beendet und dem Täter wie auch seinem Umfeld nichts mehr ermöglicht.

Wir werden die Humanität nicht retten, indem wir inhuman werden.
Autor: Dr. Anna Maria Riedl Ethikfoscherin

Bedenken habe sie nur, wenn der freie Schreiber aus reiner Sensationsgier zu Stift und Papier greift oder die Straftat entschuldigen möchte. Den Menschen dahinter kennenzulernen sei aber kein Problem – denn auch wenn es sich um einen verurteilten Mörder oder Vergewaltiger handle, spricht nichts dagegen, einmal hinter die Fassade zu blicken und zu merken, dass er auch ein liebender Familienvater oder toller Freund sein kann.

Brieffreundschaften mit verurteilten Todeskandidaten – sinnvoll oder absolut verwerflich? Schick uns deine Meinung via Whatsapp-Sprachmemo an 079 909 13 33 oder diskutiere unten im Kommentarfeld mit.

«Kompass»

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Egal ob Hentai, Microdosing oder Dämonenaustreibung - Host und Produzent Jan Gross lockt dich aus der Komfortzone und beleuchtet Themen abseits des Mainstreams. Im Zentrum stehen Menschen, ihre Meinungen und Geschichten.

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