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Rehmann Bigu (34): «Ich konnte nicht mal meine Schuhe richtig binden»

Als bei Bigu aus Rorschach (SG) vor einem Jahr die Autoimmunerkrankung Fasziitis diagnostiziert wird, ändert sich seine Einstellung zum Leben radikal. Was er früher als selbstverständlich angesehen hat, schätzt er heute umso mehr.

Dass irgendetwas mit seiner Gesundheit nicht mehr stimmt, vermutet Marco schon länger. Immer wieder erlebt er krampfartige Schübe in Händen und Füssen, die seine Mobilität kurzweilig einschränken. Als der ambitionierte Musiker, der in seinem Umfeld liebevoll Bigu genannt wird, mit seiner Band ein Konzert in Frankfurt spielt, soll das eintreten, was er schon länger befürchtet: Als der Auftritt gerade in vollem Gange ist, spürt Bigu plötzlich, wie seine Finger und Füsse derart verkrampfen, dass er sich kaum noch bewegen kann. Der Thurgauer versucht die Situation so gut es geht zu überspielen. «Wenn du auf einer Bühne stehst, dann heisst es einfach Showtime. Irgendwie schaffte ich es noch, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.»

Als der 34-Jährige zu später Stunde dann endlich im Hotel in seinem Einzelzimmer nicht mal mehr seine Schuhe richtig binden kann, überkommt ihn die Panik: «Ich fühlte mich so alleine, verletzlich und in einer Ungewissheit gefangen, weil ich einfach nicht wusste, was da gerade vor sich ging.» Am nächsten Tag steht die Abreise an. Mit anpacken kann Bigu da nicht mehr.

Ich hätte nur heulen können. Plötzlich kannst du nicht mehr verdrängen, dass etwas mit deinem Körper nicht stimmt.

Diagnose: Unbekannt

Einige Tage nach dem Vorfall beschliesst Bigu einen Termin bei der Rheumatologie im Kantonsspital zu vereinbaren. Die Wartezeiten dafür betragen jedoch bis zu sechs Wochen. In diesen Wochen werden die Verkrampfungen in den Gelenken immer stärker und er muss alleine mit seinen Symptomen und der Ungewissheit ausharren.

Als es endlich zum Termin kommt, muss er gleich mehrere Tage im Krankenhaus bleiben. Aber trotz verschiedensten Untersuchungen bleiben die Ärzte ratlos. «Es macht einem Angst, wenn selbst die Ärzte dir nicht sagen können, wo das Problem liegt.»

Die Ärzte möchten nichts übersehen und beschliessen ihn auf die Onkologieabteilung zu schicken. Diese ist auf Krebserkrankungen spezialisiert.

Ich konnte nur noch daran denken, dass ich möglicherweise Krebs habe.

In dieser schweren Situation zieht er sich von Freunden und der Band zurück. Nur noch zur Familie pflegt Bigu den Kontakt: «Ich wollte auch nicht mit meinem Umfeld über mögliche Ursachen spekulieren, da es einen nur noch mehr fertig macht.»

S.O.S. – Sick of Silence

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Wie sieht das Leben junger Menschen aus, nachdem es durch eine chronische Krankheit ausgebremst wurde? Robin Rehmann leidet selbst an einer chronischen Krankheit und unterhält sich in seiner Sendung mit Betroffenen.

Jeden Dienstag, 18-19 Uhr bei SRF Virus oder hier als Podcast.

Die Angst vor dem Sterben

«Jeder der Krebs oder den Verdacht darauf hat, weiss wie schwer der Gang auf die Onkologie ist.» Wegen einer verpassten frühzeitigen Anmeldung des Kantonsspitals muss Bigu wieder warten. Ganze vier Wochen hängt er in der Luft über eine mögliche Krebsdiagnose. Der Musiker entwickelt eine grundlegende Angst vor dem Sterben. Diese Wochen sind ein radikalerer Wendepunkt in seiner Einstellung zum Leben: «Mir schossen plötzlich so viele Gedanken zu meinem Leben ins Gedächtnis: Hast du dein Leben richtig gelebt? Hast du dir dein Leben versaut oder hast du es gar verschwendet?»

Du bist im Alltag eingespannt und alles zieht an dir so schnell vorbei. Als ich mich in der neuen Situation wiederfand, merkte ich, wie unbewusst ich gelebt habe und vieles für selbstverständlich hielt.

Kurz darauf erhält Bigu die erleichternde Nachricht: Kein Krebs!

Trotzdem geht es Bigu weiterhin nicht besser. Die Beweglichkeit verschlechtert sich nur noch mehr und damit wird auch sein psychischer Zustand schlimmer. Nach langen weiteren Abklärungen kann immer noch keine Diagnose gestellt werden. Vermutet wird aber, dass Bigu an einer Form von Fasziitis leide. Das sind Entzündungen der Haut, die sich zwischen Muskeln und Bindegewebe befinden. Die Faszien und damit möglich eingehende Beschwerden sind leider noch ein relativ unerforschtes Gebiet.

Weltweit gibt es drei Fälle, die ähnlich sind wie meiner.

Gemeinsam mit seinen verordneten Ergo- und Physiotherapeuten entscheidet er sich neben seiner medikamentösen Behandlung für einen Weg, der sich mehr mit Körper, Ernährung, Sport und Achtsamkeit auseinandersetzt.

Bewusst leben, lieben und Musik machen

Woher die Faszien-Entzündungen kommen, die seine körperliche Motorik so lahmgelegt haben, weiss Bigu bis heute nicht: «Inzwischen weiss ich, dass ich im Jahr 2016 an pfeifferschem Drüsenfieber erkrankt bin und möglicherweise habe ich es mir so aufgelesen.»

Heute geht es Bigu wieder etwas besser. Seit Mai 2017 wurden keine neuen Entzündungswerte festgestellt und auch die Medikamente konnten auf ein Minimum dosiert werden. Auch wenn er heute noch mit körperlichen Einschränkungen zu kämpfen hat, findet er dank der Unterstützung seiner Therapeuten, seinem Umfeld und seiner eigenen Kraft wieder zu einem für ihn lebenswerten Leben zurück. «Ich trauere dem alten Bigu nicht nach. Der ist nicht mehr so mein Typ. Aber seine Unbeschwertheit und was er früher alles machen konnte, vermisse ich schon manchmal.» Dafür schätzt Bigu sein jetziges Leben umso mehr und geniesst auch die kleineren Dinge.

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