Alles begann in Carolines Jugend mit dem unspektakulären Wunsch, ein paar Kilos abzunehmen. Im Internet stiess sie auf den Trend, Erbrechen als Hilfsmittel einzusetzen und dachte sich: «Das kannst du ja mal ausprobieren.»
Aus dem Versuch wurde Routine, ein fester Bestandteil ihres Lebens. Caroline kochte mit dem Wissen, dass der Grossteil des Essens später wieder in der Toilette landen wird. Die Gedanken in ihrem Kopf trieben Caroline immer weiter. So weit, bis sie ihren Alltag kaum mehr bewältigen konnte.
Der Notausstieg war ein Aufenthalt in einer Klinik, zusammen mit Frauen, die ebenfalls an einer Essstörung litten. Dort stellte sie sich ihrem inneren Feind, ass sechsmal am Tag und reduzierte ihre Brechsucht.
Seit letztem August hat sie die Klinik wieder verlassen. Und auch wenn sie noch meilenweit davon entfernt ist, ihre Krankheit zu besiegen, hat ihr der Aufenthalt nachhaltig geholfen.
Ich konnte das Erbrechen reduzieren – von achtmal am Tag auf fünfmal in der Woche.
Der Teufel auf der Schulter
Im Alltag ist Carolines Essstörung ein stetiger Begleiter. Sie braucht den Gang auf die Toilette, um die Kontrolle über ihren Körper, über ihr Gewicht zu haben. Wenn sie das wegen ihres Tagesprogramms nicht kann, ist es vorbei mit der Ruhe.
Dann denke ich – jetzt esse ich heute halt gar nichts mehr. Gegen aussen merkt man die Panik nicht, aber ich habe einen erhöhten Herzschlag und Hitzewallungen.
Besonders scharf schaut ihr die innere Stimme beim Einkauf über die Schultern. Oft weiss sie bereits im Laden, dass ein Grossteil des Essens ihrer Bulimie zum Opfer fallen wird. Und kauft trotzdem – oder genau deswegen – viel zu viel ein.
«Die Krankheit ist überzeugt vom Kotzen, nicht ich»
Caroline nennt das einen «Autopiloten», den sie nicht stoppen kann – obwohl sie genau weiss, dass ihr Verhalten der Gesundheit schadet.
Es ist meine Krankheit, die mich zum Erbrechen bringt. Ich leide darunter, dass ich das machen muss. Es ist auch nichts Schönes, nichts Angenehmes. Und die Schäden spüre ich kurz darauf.
Dennoch kann sich Caroline ein Leben ohne ihre Erkrankung heute nicht vorstellen. Und will es zu einem gewissen Teil auch nicht – so absurd das klingt. Ihre Essstörung ist zu einem Teil von ihr geworden, eine Art sehr komplizierte und schädliche Freundschaft, wie sie sagt. Aber es gibt auch Momente, die ihr gefallen. Es macht sie stolz, wenn sie disziplinierter ist als andere. Es ist für sie ein Weg, Stärke zu zeigen, Aufmerksamkeit und Bestätigung zu erhalten.
Psychische Erkrankungen – ein Tabuthema
Carolines Krankheit lebt nur in ihrem Kopf. Anders als ein Rollstuhl oder eine Narbe ist sie für ihre Mitmenschen unsichtbar. Was im ersten Moment vielleicht positiv klingt, ist für Caroline eine grosse Belastung.
Manchmal wünschte ich mir, dass man meine Essstörung nach aussen sieht. In der Lehre wollte ich unbedingt in Ohnmacht fallen, damit die anderen merken, dass ich nicht mehr mag.
Für Caroline ist es sehr schwierig, ihre Ess- und Brechsucht zu thematisieren. Viele Leute können nicht verstehen, dass sie ihre Gedanken nicht einfach kontrollieren kann. Selbst ihr Vater fordert von ihr, sie solle «doch einfach damit aufhören.»
Und auch vom Besuch beim Psychologen traut sie sich kaum zu erzählen, aus Angst davor, als komisch oder verrückt abgestempelt zu werden. Caroline ist überzeugt davon, dass psychische Krankheiten deshalb viel eher im Verborgenen bleiben.
Der Blick in die Zukunft ist für Caroline schwierig, der Verlauf ihrer Erkrankung ein Auf und Ab. An eine vollständige Genesung glaubt sie nicht – ein «normales» Leben ist für sie aber trotzdem denkbar.
Ich glaube, im Kopf werde ich immer ein wenig krank sein. Aber ich glaube, man kann es ganz gut schaffen, ihm nicht mehr zu glauben. Das braucht aber extrem viel Kraft.