Wenn der Vater die eigene Mutter tötet
Nach einem Streit tötete Leonies Vater ihre Mutter und richtete sich anschliessend selbst. Leonie war damals fünf. Mit ihren eigenen Augen sah sie wie ihre Mutter regungslos vor ihr lag. Das Bild von ihrer toten Mutter ist Leonie bis heute noch präsent.
Da war eine Treppe. Meine Mutter lag dort, mit offenem Hals. Blut rann ihr bis zu den Knien. Zwei Männer kamen. Sie waren gelb und blau angezogen. Sie gaben mir und meinem Bruder eine Tablette.
Leonie wurde erzählt, dass sie sich damals oft in den Schlaf geweint habe. Sie habe an einer Kindesdepression gelitten, sagte man ihr. Leonie selbst kann sich heute an die Zeit kurz nach der Tragödie nicht mehr erinnern.
Leonie wurde ein stilles Kind. Sie stellte sich das Erlebte wie eine Art Traum vor. Bis sie in ein Alter kam, in welchem sie bereit war, diesen massiven Schicksalsschlag aufzuarbeiten.
In der zweiten Klasse realisierte ich zum ersten Mal: Meine Eltern sind tot.
Aufwachsen im Heim und Vorurteile gegenüber Heimkindern
Leonie kam nach dem Vorfall ins Heim. Dort war sie mit Halbwaisen und zum Teil auch Vollwaisen zusammen. Jedes Kind hatte eine eigene Betreuungsperson. «Fernsehen durfte man nur 30 Minuten pro Woche. Auch als die PCs dann gekommen sind, galten dieselben Regeln», sagt Leonie.
Viele haben die Vorstellung, dass Heimkinder schlimm sind. Dabei ist es umgekehrt: Oftmals sind es die Eltern, die die Kinder vernachlässigen oder die Erziehung nicht auf die Reihe bringen. Oft habe ich das Gefühl, es sickert noch etwas von Verdingkindern durch.
Ende des Heims und Leonies Krankheiten
«Als mein Bruder aus dem Heim auszog war er 18 und ich 14 Jahre alt. Dann reichte es mir auch im Heim!» Leonie fand auf eigene Faust eine Pflegefamilie. Vier Jahre später zog sie dann auch dort aus und begann alleine zu wohnen.
Leonie erkrankte an der chronischen Darmkrankheit «Colitis Ulcerosa». Das ist eine schwerwiegende Dickdarmentzündung, bei der man unter starken Krämpfen leidet und hochfrequentierte und blutige Stuhlgänge hat. Die Krankheitsursache ist unbekannt, kann aber oft auch psychischer Natur sein. «Colitis Ulcerosa» ist aber nicht das einzige körperliche Leiden von Leonie: Seit Geburt leidet sie an Neurodermitis.
Leonie blickt nach vorn
Leonie ist aber nichtsdestotrotz ein hochgradig positiver Mensch: «Es bringt nichts, wenn man nicht nach vorne schaut», sagt die junge Frau. Stress vermeidet sie mit Fernsehen oder Musik hören. Ein wichtiger Bestandteil in Leonies Leben sind auch ihre engen Freunde.
Ich rede viel mit meinem Umfeld. Diese Gespräche ersetzen mir den Psychologen.
Leonies Zukunft?
Ihre Dickdarmentzündung hat Leonie mittlerweile mit Medikamenten und einigen Ernährungsumstellungen unter Kontrolle. Bald beginnt sie ein Studium an der PH und will Lehrerin werden. Ob sie dabei Bedenken hat? Jein: Leonie fragt sich, ob sie da oft krank sein wird. Sie sagt:
Ich sehe meinem Studium und meiner Zukunft mit einer Art ängstlicher Freude entgegen.