Für Livia ist es besonders schwierig, wenn sie vom Umfeld nicht verstanden wird. Wenn sie einem Anfall ausgeliefert ist und jemand meint: «Beruhig dich doch!». Denn Livia kann den Drang, sich selbst zu verletzen, nicht kontrollieren. Sie leidet an einer starken Form des Tourette-Syndroms.
Das Syndrom kennt man aus den Medien vor allem wegen den verbalen Ticks, also beispielsweise unkontrollierbarem Fluchen. Das kommt bei Livia auch vor, aber das belastet sie am wenigsten.
Für Livia sind die körperlichen Ticks viel schlimmer: Bei heftigen Anfällen verletzt sie sich regelmässig selbst. Die Krankheit zwingt sie, eine Art Rückwärtssalto zu machen, ihren Kopf gegen die Wand zu schlagen oder zu rennen – so schnell sie kann, unkontrollierbar. Natürlich bringt sie sich dabei selbst in Gefahr.
Wenn es lebensgefährlich wird, wird über mich bestimmt.
Die Ticks wecken unbändige Kräfte
Die ersten Ticks hat sie mit acht Jahren. Was mit Räuspern und Kopfschütteln beginnt, wird immer schlimmer. Bis sie als 13-jähriges Mädchen den traurigen Höhepunkt erreicht: Sie entwickelt einen sogenannten Tickstatus und hat Anfälle, die Minuten, Stunden, Tage dauern. Livia wird in die Psychiatrie eingeliefert. «Zuerst versuchten sie, mich festzuhalten», erzählt sie.
Während einem Anfall entwickelt sie unglaubliche Kräfte: Teilweise muss sie von sechs Leuten gleichzeitig fixiert werden. Auch die Sedierung mit Medikamenten zeigt nicht die gewünschte Wirkung, ihr Körper gewöhnt sich an die hohen Dosen. Weil nichts anderes funktioniert, muss sie jeweils mit Gurten ans Bett gebunden werden. Bis zu 30 Stunden. Ein traumatisches Erlebnis.
Der unbefriedigte Drang, den Tick auszuüben, fühlt sich an wie ein körperlicher Schmerz. Livia vergleicht es mit Blinzeln oder einem Hustenreiz, dem man nicht standhalten kann. Bei der Fixierung ist sie gefangen im eigenen Körper.
Den Drang zu unterdrücken, ist, wie nicht blinzeln zu dürfen
Hoffnung nach zwei Suizidversuchen
Tragischerweise begeht sie nach der Operation, bei der der Schrittmacher eingesetzt wird, zwei Selbstmordversuche mit Medikamenten. Als sie nämlich nach dem Eingriff wieder einen Tourette-Anfall durchleben muss, ist sie verzweifelt. Sie fühlt sich, als sei die «letzte Hoffnung» nun ausgeschöpft - und die Ticks immer noch da. Glücklicherweise hat sie die Überdosen überlebt.
Momentan hat Livia das Syndrom besser im Griff. Sie muss aber täglich starke Beruhigungsmittel nehmen und ist in einer Verhaltenstherapie. Eine Hoffnung ist für Livia ein neuer Hirnschrittmacher. Wenn es gelingt, diesen richtig einzustellen, kann Livia hoffentlich ihr grosses Ziel verfolgen, ins Gymnasium zu gehen, um später selbst Ärztin zu werden.