Als Ronja das Licht der Welt erblickt, ist ihre Mutter gerade einmal 19 und ihr Vater 20 Jahre alt – die Eltern sind jung und mit der Situation überfordert. Zudem leidet ihre Mutter an einer Drogensucht. Aus diesem Grund wächst Ronja bis zur sechsten Klasse bei ihrer Grossmutter auf. Später ändert sich Ronjas Familiensituation: Die Lebensumstände ihrer Mutter stabilisieren sich, sie pflegt ein geregelteres Umfeld und scheint aus ihrer Sucht rausgekommen zu sein. Auch ihren Haushalt scheint sie im Griff zu haben.
Aus diesem Grund beschliesst Ronja, wieder zu ihrer Mutter zurück zu kehren: «Ich entschied mich, zu ihr zurückzugehen, um endlich auch eine Mutter zu haben und diese kennenzulernen. Ich wollte Familienverhältnisse, wie die anderen Kinder in meiner Schule.»
Vom einen ins andere Extrem
Doch der Schein trügt. Was nach aussen vorbildlich wirkt und einen guten Eindruck hinterlässt, rutscht ins andere Extrem. «Früher war meine Mutter chaotisch. Das änderte sich jedoch und sie wurde übertrieben ordentlich und achtete extrem auf Sauberkeit.»
Sie wollte ständig wissen was ich mache und wo ich mich befinde.
Das erste halbe Jahr behält Ronja sehr positiv in Erinnerung: «Es war extrem schön gewesen». Sie funktionieren gut zusammen und ihre Mutter gibt sich vielleicht gerade wegen der vorbelasteten Vergangenheit besonders viel Mühe.
Von der Angst getrieben, dass Ronja auf die schiefe Bahn abrutschen könnte, entwickelt Ronjas Mutter einen unglaublichen Kontrollzwang. Dieser geht so weit, dass Ronja kaum noch raus darf und ständig unter der Beobachtung ihrer Mutter steht.
Die grösste Angst ihrer Mutter ist, dass Ronja magersüchtig sein könnte. Eines Tages ist sie so überzeugt von dieser Befürchtung, dass sie ihre Tochter zwingt, sich auszuziehen, um sich zu vergewissern, dass Ronja nicht zu dünn ist. Ronja sträubt sich dagegen und die Situation eskaliert. Die Mutter reisst im Wahn Ronja die Kleider vom Leib.
«Ich weiss sie meinte es nicht böse, sondern war wirklich überzeugt von ihren Wahnvorstellungen.» Nur noch in Unterhose und T-Shirt bekleidet rennt Ronja zu einer Klassenkameradin, die im Nachbarshaus wohnt. Dort angekommen möchte sie aber aus Scham nicht den wahren Grund ihrer Flucht nennen und erzählt, dass sie sich einfach mit ihrer Mutter gestritten habe.
Der Zwischenfall wird als Streit, der «unter Teenies und Müttern halt mal vorkommen kann», abgestempelt.
An diesem Abend wird Ronja von ihrem Vater abgeholt. «Den gab es auch. Ich war auch häufiger bei ihm. Zu ihm zu ziehen war aber leider keine Option, da mein Vater immer sehr ausgelastet gewesen ist.» Während dem Wochenende bleibt Ronja trotzdem bei ihrem Vater. Ihm gegenüber lässt sie durchblicken, was wirklich passiert ist. Dieser scheint mit der Situation jedoch ebenfalls überfordert und bringt sie wieder zur Mutter zurück.
Als Ronja zurück zu ihrer Mutter gebracht wird, entschuldigt sich diese. «Sie meinte es tut ihr unglaublich leid. Sie wollte nicht, dass es so aus dem Ruder läuft. Aber sie war von Ängsten geleitet gewesen. Ich konnte sie irgendwie verstehen, weil ich wusste, dass ihre Angst nicht gespielt war. Meine Mutter verlor in ihrem Wahn völlig die Kontrolle.» Der Zwischenfall bleibt nicht ohne Konsequenzen. Ronjas vertraut sich einer Schulsozialarbeiterin an.
Meine Mutter hatte zu mir gesagt: Du machst ja alles kaputt!
Ronjas Mutter fühlt sich in die Enge getrieben: «Ich hatte ein schlechtes Gewissen meine Mutter so zu sehen.»
Eine sich immer schneller drehende Kontroll- und Gewaltspirale
Kurz nach diesem Vorfall ziehen Ronja und ihre Mutter in ein kleines Dorf mit nur 30 Einwohnern. Dort fängt es dann erst richtig an: «In den Moment, als mich meine Mutter das erste Mal geschlagen hatte, kann ich mich nicht richtig erinnern. Ich weiss nur, dass es eine Ohrfeige gewesen ist, was ja noch relativ harmlos ist.» Von diesem Zeitpunkt an nimmt die Gewalt Zuhause zu.
Ich erinnere mich, wie sich meine Mutter auf mich hockte, mich auf den Boden drückte und ich fast keine Luft mehr bekommen habe.
Als einmal eine weitere Situation eskaliert, drückt Ronjas Mutter sie zu Boden und schlägt derart auf sie ein, dass sie eine blaue Nase davon trägt: «Ich habe oft dem Frieden zuliebe zugegeben, dass ich schuld bin, auch wenn ich gar nichts gemacht habe.»
Irgendwann kommt es soweit, dass Ronjas Mutter «Strafgebühren» einführt. Immer, wenn sie aus der Sicht der Mutter lügt oder etwas falsch getan hatte, muss sie ihr Bankkärtchen abgeben. Einmal macht die Mutter absichtlich Ronjas Brille kaputt: «Sie meinte dann, ich muss zum Optiker gehen und sagen, es sei ein Unfall gewesen.» Die Ohnmachtssituation nimmt zu. Aus Scham möchte Ronja aber niemandem erzählen, was Zuhause wirklich abgeht.
Wenn dir deine Mutter fünf Mal am Tag erzählt, wie schlecht du bist, dann glaubst du das irgendwann.
Irgendwann droht ihr die Mutter, sie vor die Tür zu setzen. «Sie meinte, sie würde mich wegschicken und wollte mit mir schriftliche Verträge aufsetzen und Briefe schreiben, in denen ich zugebe, wo und wann ich überall ihrer Meinung nach gelogen habe. Auch drohte sie mir, sie würde mich bei anderen Leuten anprangern.»
Wohnen zwischen gepackten Kisten
Ronja muss ihre Sachen zusammenpacken. Die Mutter zwingt sie, Schrank und Bett abzubauen und alles in Kisten zu verstauen. Trotz des enormen psychischen Terrors, wehrt sich Ronja mit Händen und Füssen dagegen.
Ich wusste ja, dass es wegen ihrer Kontrollangst war und es gab Zeiten, in denen sie sich anders sich verhalten hat.
Weg aus dem Leid und zurück zur Grossmutter
In dieser schweren Zeit ist Ronja oft bei ihrem Patenonkel. Er merkt irgendwann, welche Zustände bei ihr zuhause herrschen und redet mit der Grossmutter. Diese holt Ronja daraufhin wieder zu sich. Ronja erkennt, dass es ihr viel bessergeht, wenn sie keinen Kontakt mehr zur Mutter hat.
Sie leidet noch lange unter schweren Schuldgedanken und einem niedrigen Selbstwertgefühl. Als sie 18 Jahre alt wird, beginnt sich das Blatt zu wenden. Sie beginnt zu reflektieren, erkennt ihre Stärken und weiss, dass sie keine Schuld trägt.
Manchmal gibt es Situationen im Leben, die aussichtlos scheinen. Aber es gibt immer einen Ausweg.