Maria* hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Mutter und Vater waren überfordert, ihre Schwester war schwach und wuchs deshalb viel behüteter auf als sie selbst.
Ich konnte meiner Mutter nie etwas recht machen. Selbst gebastelte Geburtstags- oder Muttertagsgeschenke schmiss sie weg, weil sie sich nicht dafür schämen wollte.
Oft wurde Maria zur Bestrafung ohne Znacht ins Bett geschickt und verlor drastisch an Gewicht. Einen vom Arzt verschriebenen Spitalaufenthalt lehnten ihre Eltern ab und zwangen die damals 12-Jährige stattdessen, sich zuhause nackt auszuziehen – nur um abschätzige Kommentare über ihre «dünnen Beine» und den «komischen Bauch» zu machen.
Um wieder zuzunehmen, musste Maria doppelte Portionen essen – so viel, bis ihr schlecht wurde und sie sich übergeben musste. Doch aus Angst vor ihrer Mutter wehrte sie sich nicht.
Schuljahr wiederholen: Horror für die Eltern, Erlösung für Maria
Die Nachricht, dass Maria die fünfte Klasse nochmals besuchen musste, schockierte vor allem ihre Mutter, denn was würden andere denken? Für Maria stellte sich das Wiederholen als etwas Gutes heraus: Sie fand eine beste Freundin und auch deren Eltern befreundeten sich schnell mit Marias Mutter und Vater.
Sie selbst baute vor allem zum Vater ihrer Freundin eine vermeintlich gute Beziehung auf und fand in ihm eine Schulter zum Anlehnen. Doch es kam anders.
Er hat unseren guten Draht ausgenutzt und angefangen, mich an intimen Stellen zu berühren – immer mit dem Verständnis, es sei okay.
Irgendwann nahm Maria all ihren Mut zusammen und erzählte ihrer Mutter von den unangenehmen Annäherungen. Obwohl diese meinte, sie hätte es schon länger geahnt, unternahm sie nichts dagegen – wieder aus Angst vor der Meinung anderer.
Früher oder später kam raus, dass auch Marias Schwester vom selben Mann intim angefasst wurde. Sie erzählte es in der Schule, worauf Anzeige erstattet wurde.
Hass auf den eigenen Körper
Nach den Vorfällen fühlte sich Maria nicht mehr wohl in ihrem Körper. Sie fühlte sich dreckig und wusch sich täglich ihre Hände so lange mit Seife, bis sie wund waren. Irgendwann hörte sie auf, sich schöne Kleider zu kaufen, schnitt sich die Haare selbst. «Es hat schlimm ausgesehen», meint sie heute dazu.
Darüber was passiert ist, verbot man ihr zu reden – obschon es durch die Gerichtsverhandlung und Zeitungsberichte bekannt war.
Ausbildung, Drogen und geschlossene Klinik
Auf Drang ihrer Mutter begann Maria eine Lehre in einem Altersheim, doch dort verschlimmerte sich ihr psychischer Zustand noch mehr.
Ich musste alte Männer waschen, aber schon nur beim Gedanken daran, in ihr Zimmer zu müssen, bekam ich sofort Panik.
Dann fing Maria an, Tabletten und Drogen zu sich zu nehmen, denn ohne Schmerz- und Betäubungsmittel traute sie sich gar nicht mehr aus dem Haus – nüchtern litt sie unter Verfolgungswahn. Eines Tages schluckte die junge Frau eine ganze Packung Schlaftabletten mit Alkohol, fand sich im Spital und später in einer geschlossenen Klink wieder.
Ein Lichtblick – jedenfalls teilweise
In der Klinik verzichtete Maria vom einen auf den anderen Tag auf Drogen und schaffte es, sich wiederzufinden. Sie absolvierte gar erfolgreich eine Ausbildung.
Ganz von den Drogen weggekommen ist sie aber nicht – es gibt immer wieder Rückfälle und Zeiten, in denen sie sich nicht zugehörig fühlt, obwohl Maria heute auf ein gutes Umfeld zählen kann.
Marias Zustand verbesserte weiterhin, sodass sie sich sogar entschied, beim Gericht einen Antrag auf alle Unterlagen des Falls um ihren Missbrauch zu stellen. Eine schlechte Idee, denn zu viele Erinnerungen kamen in ihr hoch. So auch der Hass auf ihre Mutter.
Es ist so schlimm, jemanden so fest zu lieben und gleichzeitig so zu hassen.
Um von allem Abstand zu kriegen, plant Maria, Ende Jahr nach Thailand zu reisen. Freunde und Familie glauben, sie bleibe für sechs Monate dort, sie selbst denkt aber darüber nach, länger zu bleiben und sagt: «Ich muss einfach weg».
* Name von der Redaktion geändert