Schon in der Primarschule kommt Chiara immer wieder mit blauen Flecken nach Hause, weil sie von ihren Mitschülern geschlagen wird. Warum sie als Opfer ausgesucht wird, versteht sie bis heute nicht.
Auch als Chiaras Eltern das Gespräch in der Schule suchen, ändert sich nichts. So hört sie auf, von den Mobbingangriffen zu erzählen, die sie emotional mitnehmen. «Durch das Auslachen und Ausgrenzen zerstörten sie mein Selbstwertgefühl systematisch», erinnert sich die 21-Jährige.
Durch das Auslachen und Ausgrenzen zerstörten sie mein Selbstwertgefühl systematisch.
Chiaras Tiefpunkt: Suizidgedanken und Magersucht
Mit 15 erreicht ihr Selbstwertgefühl einen Tiefpunkt: Sie spielt mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. «Ich habe mir vorgestellt, dass ich aus dem Schulzimmerfenster oder vom Dach des Schulhauses springe.» Stundenlang habe sie darüber taggeträumt, erzählt Chiara.
Ich habe mir vorgestellt, dass ich aus dem Schulzimmerfenster oder vom Dach des Schulhauses springe.
Als wären Suizidgedanken nicht schlimm genug, rutscht die Teenagerin nach einer Erkrankung am Pfeifferschen Drüsenfieber in eine Magersucht. «Ich sah es als Kompliment, wenn mich Leute auf mein Gewicht angesprochen haben», erklärt die Luzernerin. Es hätte ihr gezeigt, dass sich jemand für sie interessiert.
Chiara hungert sich zu einem Punkt, an dem sie nicht mehr fähig ist, zu essen. So kommt es bei einem Zmittag zum Zusammenbruch, bei dem sie ihrer Mutter von ihrer Essstörung erzählt und sofort ins Spital gebracht wird. Dort ist das Ziel, ihre Werte zu stabilisieren.
Auf psychischer Ebene kann man ihr aber nicht helfen, auch nicht, als Chiara selbstverletzendes Verhalten zeigt. «Bereits im Spital habe ich meine Narben nicht versteckt. Auch in der ersten Klinik habe ich meine Verletzungen quasi als Hilfeschrei offen gezeigt.»
Trotzdem: Ihre Magersucht aufgeben will Chiara nicht. «In der Klinik fühlte ich mich zum Essen gezwungen. Obwohl ich freiwillig dort war.» Und sie gibt zu, dass sie den Klinikaufenthalt damals mehr für ihre Familie als für sich selber durchzieht. «Zu mir selber habe ich gesagt: ‹Ich würde lieber sterben als meine Magersucht aufzugeben›.»
Zu mir selber habe ich gesagt: ‹Ich würde lieber sterben als meine Magersucht aufzugeben›.
So entstehen in Chiaras Kopf konkrete Ideen für einen Suizid: «Ich hatte die Vorstellung, mich mit einem Messer zu erstechen.» In der Klinik kommuniziert die junge Frau, was in ihr vorgeht. Von den Ärzten wird sie daraufhin mit Medikamenten ruhig gestellt. «Das war die schlimmste Zeit meines Lebens», erinnert sich Chiara zurück. Es habe sich angefühlt, als sei sie im eigenen Körper gefangen.
Aus Erholung wird Rückfall
Nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie geht es Chiara besser, es wird gar eine Arbeitsintegrationsmassnahme angeordnet. Zur selben Zeit erlebt sie jedoch Schickssalsschläge wie den Tod eines Kollegen und fühlt sich bei der Arbeit schnell überfordert. Es folgt der Rückfall: «Ich war an einem Punkt, an dem ich mir sagte: ‹Mir ist egal, ob ich sterbe. Soll mich die Magersucht doch umbringen›.»
Lichtblicke wie etwa die Anschaffung des Familienhundes Mia oder die Besuche beim Psychologen mit ihrer Mutter helfen Chiara zwar zur Besserung, doch gegen ihre Magersucht muss sie noch immer ankämpfen. «Die Krankheit ist wie ein Dämon, der dir 24/7 eintrichtert, dass du nicht essen sollst», erklärt die heute 21-jährige.
Die Krankheit ist wie ein Dämon, der dir 24/7 eintrichtert, dass du nicht essen sollst.
Die Trennung von sich selbst: der Schlüssel zur Besserung
Erst als Chiara auf Instagram den Post einer Klinik in Kanada entdeckt, geht es für sie bergauf. Sie startet ein Crowdfunding, um die Kosten für den Aufenthalt zu decken und checkt kurze Zeit später für drei Monate in die kanadische Klinik ein. «Dort habe ich gelernt, die Magersucht und mein Ich zu trennen», erzählt die 21-Jährige. Das sei wie ein Schlüssel für sie gewesen.
In Kanada habe ich gelernt, die Magersucht und mein Ich zu trennen.
Heute weiss Chiara, Sucht ist Sucht – sei das in Form einer Essstörung oder der Selbstverletzung: «Man ist abhängig davon!» Doch sie weiss auch, es ist möglich, von einer Sucht wegzukommen: «Egal wie sehr du denkst: ‹Meine Situation ist hoffnungslos› – es ist möglich, hör einfach nicht auf zu kämpfen!» Ein Kampf, den sie bis heute immer wieder für sich gewinnen muss.
Nur eines kann Chiara bis heute nicht: Ihre Mobber konfrontieren. «Das wäre zu traumatisch», erklärt sie. Sie wünscht sich, dass Mobber ihr Handeln mehr hinterfragen. «Sie überlegen nicht, welche Konsequenzen das für ihre Opfer haben kann.»