Sommer in Zürich, es ist Sonntagabend. Nora ist auf dem Heimweg, sie hat sich mit ihrem Vater das Fussballspiel Deutschland gegen Mexiko angesehen. Am Bahnhof Altstetten in Zürich macht sie schnell ein paar Einkäufe. Nach dem Einkauf überquert sie die Strasse, nicht beim Zebrastreifen, sondern da, wo alle immer schnell die Strassenseite wechseln. Gleich ist sie Zuhause. Doch Nora sieht den Bus nicht.
Der Bus macht eine Vollbremsung. Der Busfahrer steigt aus, um zu sehen, was passiert ist und sieht die junge Frau unter dem Rad. Er muss den Bus von ihren zerquetschten Unterschenkel fahren.
Es fühlte sich an als wäre mir die Haut abgerissen worden und ich gleichzeitig angezündet worden wäre.
Nora bemerkt, dass da etwas auf ihren Beinen ist. So schwer, dass es ihre Vorstellungskraft übersteigt. Ihre Beine sieht sie nicht. Glücklicherweise. Denn ihre Unterschenkel sind bis auf die Knochen offen, die Weichteile der Füsse sind weggerissen. Fett, Haut, Muskeln und Blut vermischen sich auf dem Asphalt.
Das Nächste, woran sich Nora erinnert, ist die Ankunft im Spital: «Ich verstand nicht, warum alle so gestresst waren, es war ja Sonntagabend. Ich begriff nicht, wo ich war und verstand die Dramatik nicht.» Nora erhält ein Formular zur Einwilligung medizinischer Eingriffe. Doch als sie versucht, ihren Namen zu schreiben, merkt sie, dass sich ihre rechte Hand komplett fremd anfühlt.
Mögliche Amputation
Nach zwei Tagen auf der Intensivstation äussert sich der Arzt erstmals zu einer möglichen Amputation des rechten Fusses. Nora wird erst dann wirklich dem Ernst der Lage bewusst. Zudem ist aufgrund der grossflächig offenen Wunden das Risiko einer Infektion sehr hoch. Doch für Nora ist klar: «Nach diesen acht Wochen gehe ich wieder mit zwei Beinen aus dem Spital.»
Da war dieses absurde Ereignis mit dem tonnenschweren Bus und der kleinen Nora, und dazu diese medizinische Kunst, die angewendet wurde. Es war so abstrakt.
13 Operationen und neue Füsse
Nora wird 13 Mal operiert: Mit Teilen des Latissimus-Muskels, einem grossen Rückenmuskel sowie mit Haut von ihren Oberschenkeln werden ihre Füsse und Unterschenkel rekonstruiert. Nach acht Wochen verlässt sie das Spital ohne ihren grossen Zeh und beginnt die Therapie in der Reha.
Zurück in den Alltag
Nach neun Wochen in der Rehabilitationsklinik verlässt Nora diese mit Krücken. Sie kann das erste Mal wieder duschen, den Kühlschrank öffnen und selber entscheiden, was und wann sie essen möchte. Nora findet langsam zurück in ihren Alltag: «Ich habe eine Kraft entdeckt, in einer Art und Weise, wie ich sie noch nicht gekannt habe. Aber auf der anderen Seite bin ich auch tief verunsichert. Das Leben macht, was es will. Das anzunehmen und dabei nicht zu verzweifeln, ist, die grosse Aufgabe, die wir alle zu meistern haben.»