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Rehmann «Ich wurde als Kind missbraucht und niemand hat mir geholfen»

Während ihrer Kindheit wird Joëlle oft von ihrer Nachbarin gehütet. Diese hat einen Sohn, der deutlich älter ist als sie und dies schamlos ausnützt: Ab ihrem zehnten Lebensjahr missbraucht er sie regelmässig unter dem Vorwand spielen zu wollen.

Als Joëlle* noch ein Kind ist, verbringt sie viel Zeit bei ihrer Nachbarin. Diese ist eine gute Freundin ihrer Mutter und hütet sie. Bis sie zehn ist, scheint alles völlig in Ordnung. Doch dann passiert es: Der deutlich ältere Sohn der Nachbarin bittet Joëlle unter dem Vorwand «ein Spiel zu spielen» in sein Zimmer und vergeht sich an ihr. Das Ganze bleibt kein Einzelfall, sie wird immer wieder von ihrem Peiniger missbraucht, traut sich aber nichts zu sagen.

Eines Tages heisst es, die Nachbarin sei krank und Joëlle wird ab dann von jemand anderem gehütet. Sie vergisst. Sie vergisst alles, was mit ihr geschehen ist. Leidet an dissoziativer Amnesie. Etwas, wovon viele Missbrauchsopfer betroffen sind. Konkret bedeutet es, dass man sich an traumatische Erlebnisse nicht mehr erinnern kann.

Sick of Silence

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In der Sendung Rehmann S.O.S erzählen junge, kranke Menschen ihre Lebensgeschichte. Nun geben wir Menschen eine Stimme, die anonym von ihrem Schicksal erzählen möchten.

In der Webserie erzählen die Schauspieler Anja Rüegg, Silvio Kretschmer und Giorgina Hämmerli solche Geschichten - genau so, wie uns diese erzählt wurden.

Eine SMS, die alles verändert

Die Jahre vergehen, Joëlle kämpft mit vielen Problemen deren Ursprung sie nicht ausmachen kann. Dann wird sie 18 und bekommt eine SMS: «Er schrieb mir, er wolle sich mit mir treffen.» Sie lässt sich auf das Treffen ein und geht mit ihm Pizza essen. «Es fühlte sich komisch an», sagt sie.

Er sagte mir, dass er ein anderes Mädchen nur aus Frust missbrauchte. Frust darüber, dass ich ihn abgewiesen habe.

Und dann packt er aus: «Er sagte mir, dass er mich liebt. Er habe mich schon immer geliebt.» Er erzählt schamlos weiter. Von früher. Sagt, er habe Probleme bekommen, weil das andere Mädchen, das seine Mutter hütete, auspackte. Sie hätte ihrer Mutter von dem Missbrauch erzählt, diese sei zur Polizei gegangen. «Er sagte mir, dass er sie nur aus Frust missbrauchte. Frust darüber, dass ich ihn abgewiesen habe. Er würde mich ja lieben.»

Ich sperrte mich zuhause ein und traute mich nicht mehr auf die Strasse. Ich sah katastrophal aus.

Für Joëlle, die sich bis zu diesem Zeitpunkt an nichts mehr erinnerte, ein Riesenschock. Schleichend kommen alle Erinnerungen wieder hoch. Sie weiss plötzlich wieder, was mit ihr geschehen ist. Die Erinnerungen die aufkamen waren zwar belastend, aber auch erhellend.

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Wenn alle nur wegschauen

Es vergehen Jahre, bis sich Joëlle jemandem öffnet. Sie holt sich psychologische Hilfe und spricht mit wenigen, auserwählten Menschen darüber. Mit ihrer Familie ist es bis heute schwierig, darüber zu sprechen.

Dass das andere Mädchen missbraucht wurde, war allen Beteiligten bewusst, doch niemand fragte Joëlle, ob ihr Ähnliches widerfahren ist. Und das, obwohl es auf der Hand lag. Zudem ist ihre Mutter immer noch eng mit ihrer Nachberin befreundet, ein ebenfalls sehr belastender Umstand für Joëlle.

Man denkt immer, dass man helfen würde, wenn man jemandem ansieht, dass etwas nicht stimmt. Aber man kann am Boden liegen und es wird einfach nur zugeschaut.

Selbst als sich Joëlle immer mehr zurückzieht, greift niemand ein. «Man sah mir an, dass etwas nicht stimmt. Ich weiss, es ist schwierig zu helfen. Man denkt immer, dass man helfen würde, wenn man jemandem ansieht, dass etwas nicht stimmt. Aber man kann am Boden liegen und es wird einfach nur zugeschaut.» Deswegen appelliert Joëlle daran, dass man mit Menschen spricht, wenn man merkt, etwas ist nicht in Ordnung. «Ich wünschte mir, ich hätte viel früher darüber sprechen können. Ich merkte erst dann, wie gut es tut.»

*Name von der Redaktion geändert

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