Nationen-Stereotypen sind mühsam, schädlich und vor allem eines: meistens falsch. Nein, nicht jeder Franzose isst täglich ein Baguette und läuft ständig mit einer Baskenmütze herum. Genauso wie auch bei jedem Schweizer nicht jeden Tag eine Fonduepfanne auf dem Mittagstisch steht.
Dementsprechend ist auch das Klischee der «verrückten» Japaner eben genau das: ein Klischee. Nope, Japaner hängen nicht dauernd in Katzenkaffees rum und konsumieren dort Tentakelpornos . Wirklich nicht.
Die Grenzen des Erträglichen ausloten
Andererseits haben gewisse Stereotypen eben doch einen gewissen Wahrheitsgehalt. Nehmen wir die japanische Musikszene als Beispiel. Irgendwie scheint es im Land der aufgehenden Sonne nämlich besonders viel Musiker zu geben, die gerne einmal dort eine Schippe drauflegen, wo andere längst abwinken.
Da hätten wir Lärm-Freak Merzbow , der einfach so ein Boxset mit 50 (!) Alben veröffentlicht, oder die drei schreienden Metal-Schulmädchen von BABYMETAL, die wir an dieser Stelle vor ein paar Monaten kennengelernt haben.
Aber Japan hat selbstverständlich noch viel mehr Exponenten, welche regelmässig die Grenzen des Erträglichen ausloten.
Sofortiges Headbangen und Teufelshörner-in-die-Luft-strecken
Das wohl schönste Beispiel der japanischen Gitarrenkrach-Szene ist die Stoner-Metal-Noise-Krach-Band Boris . 2005 veröffentlichte das Trio aus Japan ein grossartiges Album mit einem metal-untypischen Titel: «Pink». Dieses Album bringt bis heute weltweit Ohren zum Wackeln.
Diese Tage erscheint eine super-fancy Deluxe-Vinyl-Neuveröffentlichung des Albums unter der amerikanischen Qualitätsadresse Sargent House . Grund genug also, das Album wieder einmal aus dem Plattenregal zu holen. Denn bei dieser Scheibe sind Headbangen und sofortiges Teufelshörner-in-die-Luft-strecken ein Muss.
«Pink» überzeugt aber nicht nur wegen seiner Härte, sondern auch dank des unberechenbaren Abwechslungsreichtums. Von Track zu Track und ab und zu sogar von Sekunde zu Sekunde shreddern sich Boris hier durch Musikstile, als ob hier gerade jemand wild durch das Fernsehprogramm zappt.
Hier wechselt sich ohrenbetäubendes Gewitter («Pink», «Blackout») mit sich langsam steigerndem, alles plattwälzendem Feedback («Farewell») ab und wer bis zum 18-minütigen Finale «Just Abondoned My-Self» durchhält, verordnet sich anschliessend am besten ein abkühlendes Bad.
«Pink» ist ein grandioses Feuerwerk der harten Musik, das in jede gut sortierte Metal-Playlist gehört.
Über 30 Alben in 24 Jahren
Gegründet hat sich die Band aus Tokio im Jahr 1992. Seit 1996 ist man unverändert in der gleichen Besetzung unterwegs. Die drei Mitglieder beschränken sich dabei, wie so oft in japanischen Bands, auf einzelne Namen: Wata, Takeshi und Atsuo.
Die komplexe Diskographie von Boris auf einen einzigen Satz zu reduzieren ist ein Ding der Unmöglichkeit. 22 Studioalben und unzählige Kollaborationen hat die Band bislang veröffentlicht - zum Teil von sehr unterschiedlicher Qualität.
Davon, blind in die Boris-Fundkiste reinzugreifen, sei hiermit eher abgeraten: Da kann es schon einmal passieren, dass man aus Versehen auf ein Electropop-Album oder ein strukturloses Gerumpel stösst. Wer sich mit Boris näher beschäftigen möchte, dem seien an dieser Stelle nebst «Pink» die Alben «Heavy Rocks» (2002) und «Noise» (2014) empfohlen.