Zwei Tage vor der Weltpremiere seines siebten Albums «The Life of Pablo» hat es Kanye West mal wieder geschafft: «BILL COSBY INNOCENT !!!!!!!!» , twittert er - und bringt damit in Sekundenbruchteilen die gesamte Öffentlichkeit gegen sich auf. Wieder einmal.
Wer das brandneue Album von Kanye West also geniessen will, kommt nicht darum herum, die Person «Kanye West» von seinem künstlerischen Schaffen komplett zu trennen. Ja, Kanye West ist dem Grössenwahn verfallen, und ja, der ganze Nonsens, den Kanye über die vergangenen Tagen getwittert hat, lassen darauf schliessen, dass der Typ - sind wir ehrlich - ein totaler Idiot ist. Trotzdem: Wer sich von solchen Sachen blenden lässt, der versperrt sich den Weg zu einem hervorragenden Album.
Albumpremiere via Modeschau
Premiere feierte «The Life of Pablo» letzten Freitag im Rahmen einer ausverkauften Modeschau im New Yorker «Madison Square Garden». Dieser Event wurde - wie könnte es auch anders sein - weltweit via Livestream in ausgewählte Kinos übertragen.
Auch bei diesem Event ist es dir selbst überlassen, was du davon mitnehmen willst: Möchtest du dich lieber über die Horde von «Thrasher»-Hoodie, «Supreme»-T-Shirt, «Yeezy Boost»-tragendenden Fuccbois nerven, die zu dieser Veranstaltung gepilgert sind, um ihrem Held Kanye zu preisen? Oder kannst du dich einfach darüber erfreuen, wenn du einem grossen Popstar dabei zusehen darfst, wie ihm die Last der vergangenen Wochen von den Schultern fällt und er dir über beide Ohren strahlend sein neues Album vorstellt?
«The Life of Pablo»: abwechslungsreich, voller Ideen, hervorragend
Textlich und musikalisch bietet einem Kanye auf «The Life of Pablo», welches seit Sonntag erhältlich ist, einmal mehr die ganze Bandbreite.
Mal introspektiv und intim («When was the last time I remembered a birthday? When was the last time I wasn't in a hurry?»), im nächsten Moment wieder kopfschüttelnd grössenwahnsinnig («Sometimes I'm wishin' that my dick had GoPro / So I could play that shit back in slo-mo»).
Auch musikalisch wird es einem nie langweilg: Da ein grossartiger Gospelmoment («Ultralight Beam»), hier ein Sample von Arthur Russell («30 Hours»), dort eine Hommage an frühe House-Zeiten («Fade»).
Kanye West ist nach wie vor weit davon entfernt, der technisch beste Rapper der Welt zu sein. Das spielt aber überhaupt keine Rolle. Sein goldenes Händchen für Produktionen, die gewohnt illustre Gästeliste (hier: Rihanna, The Weeknd, Frank Ocean, Kendrick Lamar, etc.) und die zahlreichen Überraschungsmomente (keine Spoiler an dieser Stelle), machen seine Limitationen als Rapper mehr als wett.
«The Life of Pablo»: das Hip-Hop-Album der Zukunft?
Mit jedem seiner bisherigen Alben hat Kanye West ein neues Hip-Hop-Zeitalter eingeläutet: Mit «Late Registration» beerdigte er den Gangsta-Rap, mit «808s & Heartbreak» ebnete er den Weg für Drake, «My Beautiful Dark Twisted Fantasy» veränderte die Produktion von Rapsongs grundlegend. Kanye war selten Erfinder dieser Ideen - er war einfach stets der beste darin, revolutionäre Ideen in ein kommerziell erfolgreiches Produkt zu verpacken.
Ob «The Life of Pablo» ebenfalls ein neues Hip-Hop-Kapitel aufschlagen wird, steht noch in den Sternen. Fest steht: Dem Album fehlt ein singulärer Fokus: es wird weder als «das Autotune-Album» in die Geschichte eingehen, noch ist es «das hässige Album».
Darum: Nehmen wir «The Life of Pablo» doch einfach als das, was es momentan ist: Eine musikalisch höchst abwechslungsreiche und durchgehend unterhaltsame Momentaufnahme von einem der grössten Popstars unserer Zeit. Dumme Tweets hin oder her.