Fabienne kommt gehörlos zur Welt – in eine Familie, in der alle hören können. Das war nicht immer einfach für sie: «Gerade in einer Familie sprechen alle so schnell, da habe ich manchmal nichts verstanden und fühlte mich als Aussenseiterin.» Bis in der 5. Klasse spricht sie keine Gebärdensprache, denn ihren Eltern ist es wichtig, dass sie richtig sprechen lernt. «Ich wurde hart aber fair erzogen. Ohne meine Eltern könnte ich nicht so gut sprechen, wie ich es jetzt kann», erzählt uns die zweifache Mutter.
Ich musste mich immer wehren und sagen, dass ich auch noch da bin!
Im Kindergarten fühlt sie sich das erste Mal als Aussenseiterin. Um sie herum hören alle ausser sie. Wenn ihre Mitschüler sprechen, versteht sie nichts. Sie habe dann einfach für sich alleine gespielt. «Ich hatte eigentlich eine gute Kindheit, aber es war nicht immer einfach. Ich habe mich oft alleine gefühlt», erzählt Fabienne. Sie habe sich immer wehren müssen und darauf bestehen müssen, dass sie auch noch da wäre und man sie nicht aus Konversationen ausschliessen könne. Doch die meisten hätten nicht darauf reagiert.
Von Suizidgedanken zur selbstbewussten, starken Frau
Die Einsamkeit, die Fabienne als junges Mädchen spürt, bleiben nicht ohne Folgen. Sie dachte an Selbstmord.
Ich wollte mal mein Hörgerät ins WC werfen.
Als sie dann eines Tages ihr Hörgerät ins WC werfen möchte, schimpft ihre Mutter mit ihr. «Warum machst du das?», fragt sie. «Weil ich nicht mehr leben will. Ich bin immer alleine», entgegnet Fabienne. Ihre Mutter verspricht ihr, mehr für sie da zu sein. Mit der Zeit schwinden ihre Einsamkeitsgefühle und findet in der Sekundarschule den Anschluss.
«Früher war ich schüchtern. Heute bin ich direkt und sage, wenn mir etwas nicht passt», sagt Fabienne. Ihre Erfahrungen haben sie stärker gemacht und dazu geführt, dass sie heute genau weiss, wer sie ist und was sie will. «Ich habe meine eigene Identität gefunden.»
Heute hat Fabienne zwei Kinder mit ihrem ebenfalls gehörlosen Ehemann. Ihre Töchter hören beide normal, erzählt sie. Das sei gar nicht mal so unwahrscheinlich, da ihre Eltern– sowie auch die ihres Partners – nicht gehörlos sind.
Der stinknormale Alltag – nur ein bisschen anders halt
Ihre Behinderung schränkt Fabienne im Alltag überhaupt nicht ein. Klar, gewisse Dinge gestalten sich ein bisschen anders. So ist Fabienne bei Gesprächen darauf angewiesen, dass ihr hörendes Gegenüber langsam und auf Hochdeutsch mit ihr spricht. Zudem muss sie immer die Lippen und das Gesicht sehen. «Manchmal kann ich bei Männern mit Bärten nicht Lippenlesen», erklärt sie.
Ihre ältere Tochter kann Gebärdensprache sprechen, doch Fabienne möchte sie nicht dazu zwingen. «Sie soll es freiwillig machen. Mir ist nur wichtig, dass wir uns im Dialog verstehen. Und das kann auch sein, wenn sie Hochdeutsch mit mir spricht.» Und wenn die Kinder schreien – vor allem auch nachts – kommen technische Hilfsmittel zum Einsatz. So hat sie eine Blinkanlage und einen Vibrator, die reagieren, sobald die Kinder schreien. Den Vibrator nimmt Fabienne in der Nacht unters Kissen, so wacht sie auf, wenn was sein sollte.
Im Fussballverein war ich immer eine Aussenseiterin. Der Trainer nahm keine Rücksicht auf mich.
Auch widmet sich Fabienne ganz normalen Hobbys. So spielt sie zum Beispiel wöchentlich Volleyball mit anderen Gehörlosen. «Es ist lustig, bei uns Gehörlosen ist es ganz still auf dem Feld, während es bei Hörenden immer richtig laut zu und her geht», lacht sie. In einem Verein mit Hörenden zu spielen, käme für sie nicht mehr in Frage. In den Fussballvereinen, in denen sie spielte, hätte sie sich nie ganz integriert gefühlt, zumal die Trainer keine Rücksicht auf Fabienne genommen hätten und sie so nie wusste, um was es geht.
Gebärdensprache als 5. Amtssprache
Obwohl sie früher mit vielen Hörenden verkehrte, fühlt sie sich heute wohler, wenn sie unter Gehörlosen ist: «Bei gehörlosen Freunden verstehe ich alles und weiss immer, worum es geht. Dann muss ich nicht immer so blöd fragen, warum alle lachen.»
Ich wünsche mir, dass alle in der Schweiz die Gebärdensprache sprechen können.
Im Alltag werde sie schon ab und an komisch angeschaut, so zum Beispiel wenn sie nach ihrer Tochter ruft. «Die Menschen verstehen nicht, dass wir kein Gespür für Lautstärke haben. Mir ist es egal, wenn die Menschen schauen. Ich bin es ja gewohnt», sagt Fabienne und wünscht sich zum Schluss unseres Gesprächs, dass alle Menschen in der Schweiz irgendwann Gebärdensprache sprechen können. Das würde ihren Alltag nämlich noch unkomplizierter gestalten.
Fabienne bei «True Talk»
In unserem Webformat «True Talk» räumte Fabienne mit Vorurteilen gegenüber Gehörlosen auf. So erzählt sie von ihrer Lieblingsmusik, von verschiedenen Dialekten in der Gebärdensprache und davon, wie sie es am Morgen schafft aufzustehen.