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Club «Um Gotteskrieger zu werden braucht es eine innere Verstümmelung»

Der Psychoanalytiker und Buchautor Kurt Theodor Oehler hat von 1980 bis 2012 in eigener Praxis in Bern gearbeitet. In seinem neuesten Werk «Das Loch im Ich» ergründet er die Hintergründe fundamentalistisch-religiöser Überzeugungen oder extremistisch-aggressiver Theorien.

SRF: Ein intaktes Elternhaus, eine gute Ausbildung, aus guten Verhältnissen kommend - und trotzdem folgen junge Menschen dem Ruf der radikalen Islamisten. Wie ist das möglich?

Kurt Theodor Oehler: Junge Menschen, ich denke hier in erster Linie an Jugendliche mit islamischem Hintergrund oder an sogenannte Konvertiten, folgen dem Ruf eines radikalen Islamisten, weil sie nach etwas suchen, was ihnen zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung fehlt. Vielfach können ein intaktes Elternhaus und eine gute Erziehung solche innere Defizite nicht verhindern. Für diese Defizite gebrauche ich den Begriff des sogenannten «Loch im Ich».

Die Entstehung eines «Loch im Ich» ist ein komplexer Vorgang, der bei der Zeugung anfängt, während der Schwangerschaft vielen Einflüssen unterliegt, durch den Geburtsvorgang stark geprägt wird und vor allem während der frühen Kindheit entscheidend ausgebildet oder beeinträchtigt werden kann. Dieses Syndrom kann innere Spannungen, eine andauernde innere Unzufriedenheit, eine latente Wut oder gar ein gewaltiges Aggressionspotential erzeugen.

Warum lassen sich diese jungen Menschen von den radikalen Islamisten verführen?

Die Verführbarkeit durch den radikalen Islamismus ist vielfach die Folge einer wenig unterstützenden Umwelt, zum Beispiel in der Pariser Banlieue, oder von inneren Widersprüchen. Mit einer muslimischen oder defizitären Erziehung im Rücken, mit dem Koran in der Hand, mit einer patriarchalischen Familie im Herzen, mit einer westlich geprägten Umwelt um sich herum und schließlich im Rahmen des Nachahmungsbedürfnisses und einer politischen Indoktrination ist es schwer, der Verführung durch einen radikalen Islamisten zu widerstehen.

Der innere Konflikt führt zu einer Irritation und einem daraus resultierenden Identitätskonflikt. Die Sinnfrage bleibt damit ungelöst. Mit der Entscheidung, sich dem Dschihad zuzuwenden, verbindet sich die Hoffnung auf ein würdevolles und identitätsstiftendes Leben, das die Minderwertigkeitsgefühle und den fehlenden Lebenssinn kompensiert.

Gibt es auch gesellschaftlich bedingte Einflüsse, die den islamistischen Radikalismus begünstigen?

Um Gotteskrieger zu werden braucht es mehr als eine religiöse Überzeugung. Es braucht in erster Linie eine auf einem «Loch im Ich» basierende innere Verstümmelung. Diese «Verstümmelung» ist oft ein fester Bestandteil der muslimischen Erziehung. Die Abwertung der Frau, die frühe Geschlechtertrennung in der muslimischen Gesellschaft, das patriarchalisch und autoritär geprägte Elternhaus, die religiös verbrämte Angstpädagogik, die Tabuisierung der Sexualität, die rudimentäre Allgemeinbildung in den Koranschulen, der Exklusivitätsanspruch des Islams, die Versprechungen, dass die Märtyrer ins Paradies kommen würden, und die Ablehnung der westlichen Gesellschaft einschließlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tragen dazu bei, sich nicht mit den Werten der westlichen Gastländer zu identifizieren.

Viele Eltern und andere Angehörige, die zum Teil nichts mit der Religion zu tun haben, machen sich Vorwürfe: Zu recht? Welche Rolle spielen die Erziehung und die familiären Beziehungen?

Tatsächlich spielt die Erziehung bei der Ausbildung von Entwicklungsdefiziten eine herausragende Rolle. Dabei verinnerlichen die Kinder die Gruppendynamik der Elternfamilie zu ihrer «Gruppendynamik im Kopf», zu ihrer eigenen Psychodynamik.

Eltern und Angehörige sind aber nur zum Teil für die Entwicklungsdefizite verantwortlich. Vor, während und nach der Geburt können innere Beeinträchtigungen entstehen, die die Eltern nicht zu verantworten haben. Das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen beziehungsweise Eltern von ihrer Verantwortung vollständig entbunden würden. Jeder vom Gesetz her mündige Erwachsene ist für sein Tun verantwortlich, auch für seine unbewussten Beweggründe.

Wie können innere Defizite gemindert werden, ohne gleich zum radikalen Islamisten zu werden?

Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten, mit inneren Defiziten umzugehen. Innere Defizite können erstens geleugnet und anderen in die Schuhe geschoben werden, sie können zweitens durch Ersatzstrukturen wie nationalistisch-rassistische Ideologien, fundamentalistisch-religiöse Überzeugungen oder esoterisch-irrationale Fantasien kompensiert werden oder sie können drittens durch eine psychotherapeutische Behandlung nachhaltig gebessert werden.

Was würden Sie als Vater unternehmen, wenn sich Ihr Sohn auf den Weg zum IS machen würde?

Ich würde mich als erstes in Frage stellen lassen. Damit wäre der erste und wichtigste Schritt getan. Dann würde ich mit meinem Sohn das direkte Gespräch suchen. Die Bereitschaft, eigene Fehler zu sehen und einzugestehen, könnte dazu führen, einen inneren Kontakt herzustellen und eine gemeinsame Vertrauensbasis aufzubauen.

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