Mitten in der idyllischen Lüneburger Heide war im Spätsommer 2015 die Hölle los. 29 weiss gekleidete Menschen brüllten wie am Spiess, wälzten sich am Waldboden oder verletzten sich, bis sie bluteten. Einer hielt sich für einen Drachen. Ein anderer glaubte, er könne fliegen. 160 Polizisten, Notärzte und Feuerwehrleute kümmerten sich um die Halluzinierenden.
Bei den Patienten handelte es sich aber nicht um drogenaffines Partyvolk, sondern um Ärzte, Heilpraktiker und Psychologen. Diese hatten anlässlich eines Seminars in einem Selbstversuch die Designerdroge «Aquarust» eingenommen. Einer der Organisatoren, Stefan W., nahm die ganze Schuld auf sich. Er wurde zu 15 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Umstrittene Therapieform
Stefan S. war Anhänger der Psycholyse, bei der Drogen zu therapeutischen Zwecken eingenommen werden. Die Methode ist in der Fachwelt höchst umstritten. Arno Deister etwa, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, lehnt die Psycholyse strikt ab: «Bei der Psychotherapie geht es um Veränderung, um Erkenntnis, um die Bildung einer inneren Struktur», sagte er kürzlich in der Sonntagszeitung. «Drogen erschaffen dagegen nur Scheinwelten, in die man sich flüchten kann.»
Dass diese Therapierichtung anrüchig ist, hat auch mit den als effektivsten erachteten Substanzen zu tun: Sie sind mit einigen Ausnahmen verboten. Die Verwendung von LSD oder Ecstasy kann nur im Illegalen stattfinden.
So machte vor acht Jahren die Ärztin Friederike Meckel Fischer Furore. Sie verabreichte Dutzenden Patienten bei kollektiven Sitzungen Halluzinogene und schluckte diese auch selber – ein absolutes No-Go in der Psychotherapie, in der dem Patienten ein sicherer, kontrollierter Rahmen geboten werden muss. Eine von Drogen beeinträchtigte Therapeutin kann das nicht mehr bieten.
Der Guru aus Lüsslingen
Das umstrittene Mekka der Psycholyse befindet oder befand sich lange Zeit in einem kleinen Dorf in der Nähe von Solothurn: In Lüsslingen hatte der kürzlich verstorbene Psychiater Samuel Widmer die Kirschblütengemeinschaft gegründet. Auch Stefan S. und Friederike Meckel Fischer zähl(t)en zu seinen Anhängern. Für diese war Widmer ein Guru, der ab Mitte der 1990er-Jahre die umstrittene Therapieform hegte und pflegte.
Die Gemeinschaft gilt als Sekte, Widmers Wille war zu seinen Lebzeiten oberstes Gebot. Neben Drogenerfahrung ging es auch um sexuelle Befreiung. Aussteiger berichteten von Sitzungen, bei denen die Teilnehmer unter Drogen gesetzt und zu Sex mit wechselnden Personen animiert worden seien, angeblich zwecks Abbau von Eifersucht und Besitzansprüchen.
Offiziell schluckten die Teilnehmer bloss erlaubte Substanzen, heimlich wurden LSD, MDMA und Meskalin verabreicht. Die Staatsanwaltschaft Solothurn veranstaltete deshalb Razzien, gegenüber mehreren Kirschblütlern wurde ein Strafverfahren eröffnet.
Sensationelle LSD-Studie
Garantiert unverdächtig als Sektenguru ist Peter Gasser. Der Solothurner Facharzt leitete eine Studie, die wenig neue Erkenntnisse ans Licht brachte und trotzdem als Sensation gilt. Denn diese Studie ist die erste offiziell genehmigte Untersuchung zu LSD-gestützter Psychotherapie seit mehr als 40 Jahren.
Gasser führte 2007 und 2014 eine Studie mit LSD durch – mit Erlaubnis der Behörden. Er verabreichte das Halluzinogen an Krebspatienten im Endstadium. Alle kämpften mit starken Angstzuständen. Die Droge sollte ihnen helfen mehr Gelassenheit im Angesicht des nahenden Todes zu entwickeln.
Gasser hofft, dass die Gesellschaft wieder einen normaleren, nüchternen Umgang mit dem Hippie-Halluzinogen pflegt. In einem Zeit-Interview gab er allerdings zu: «Ob wir heute schon so weit sind, bezweifle ich.»
Sendung: SRF 1, Der Bestatter, 23.01.2018, 20:05 Uhr.