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Dauerpatient Gesundheitswesen
Aus DOK vom 28.02.2018.
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Wahlen in Italien Italien – ein (un)heilbarer Patient?

Die Wirtschaft wächst wieder leicht und es kommen weniger Migranten aus Afrika nach Italien. Trotzdem – viele junge Italienerinnen und Italiener sehen keine Zukunft in ihrer Heimat und verlassen sie.

Er liest sich wie eine Krankenakte, der «Rapporto Italia», der Patient heisst Italien und hat mit akuten und vielen chronischen Krankheiten zu kämpfen. Der «Rapporto Italia» ist die «Bibel» der neuesten Daten und Fakten, erstellt im Auftrag des Forschungsinstitutes Eurispes.

Die Angst vor Migration

So analysiert der Bericht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Italiens das Thema Migration und innere Sicherheit weiterhin den grössten Raum einnimmt. Nicht erst seit den Schüssen von Macerata, als ein Rechtsradikaler Anfang Februar mehrere Schwarzafrikaner verletzte, setzen vor allem die Rechtsparteien auf dieses Thema.

Ob Rechtsnationale, Lega-Anhänger oder die Parteigänger von Silvio Berlusconi – sie alle sehen Italien in Gefahr – überrollt von anhaltenden Migrationsströmen aus Afrika.

Erscheint seit 30 Jahren alljährlich und spiegelt das Befinden der Italiener und ihrem Land: der «Rapporto Italia»
Legende: Erscheint seit 30 Jahren alljährlich und spiegelt das Befinden der Italiener und ihrem Land: der «Rapporto Italia» SRF

Dabei sprechen die Zahlen eine andere Sprache. 2017 ist die Ankunft von Migranten und Flüchtlingen in Italien über die südliche Mittelmeerroute um ein Drittel zurückgegangen: Knapp 119’000 Personen wurden letztes Jahr noch in den Aufnahmezentren und Hotspots Süditaliens registriert.

Kein Vertrauen in die Regierung

Eigentlich ein Erfolg für die Regierung von Paolo Gentiloni, die sich am 4. März der Wiederwahl stellt. Dank des von Italien ausgehandelten «Flüchtlingspakts» mit Libyen nimmt die Zahl jener, die den Weg über das Mittelmeer suchen, stetig ab. Doch das Thema Migration zeigt, wie wenig Kapital die Mitte-Links-Koalition aus dem Ergebnis von fünf Regierungsjahren schlagen kann.

Viele Italiener sind überzeugt, dass diese Regierung die drängenden Probleme wirtschaftlicher und sozialer Art nicht lösen kann. Vier Fünftel sprechen Staat und Regierung das Misstrauen aus – nicht nur beim Thema Einwanderung, sondern auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der Schaffung von Zukunftsperspektiven für die Jüngeren.

Italiens Premierminister Paolo Gentilonie (Partito Democratico) hofft, am 4. März gegen die Rechtspopulisten zu gewinnen.
Legende: Italiens Premierminister Paolo Gentiloni (Partito Democratico) hofft, am 4. März gegen die Rechtspopulisten zu gewinnen. Keystone

Wieder einmal zeigt das «Bauchgefühl» vieler die Ungeduld und das tiefe Misstrauen der Italiener gegenüber nachhaltiger Reformpolitik. Denn der «Rapporto Italia» belegt, dass seit Beginn der Wirtschaftskrise vor 15 Jahren erstmals auch wieder Optimismus wächst.

Mehr als die Hälfte der Italiener geht davon aus, dass sich 2018 die persönliche, wirtschaftliche Situation stabilisieren und verbessern wird. In den Jahren zuvor glaubten 80 Prozent noch das Gegenteil!

Leichtes Wirtschaftswachstum

Die Wirtschaft wächst wieder, wenn auch nur leicht; die Zahl der Beschäftigten nimmt zu. Die Regierung führt das unter anderem auf den «Jobs Act» zurück: ein Programm von Steuer- und Abgabenerleichterungen für Unternehmen bei Neuanstellung und mehr Möglichkeiten für befristete Arbeitsverträge.

Serena: «Mein Zuhause wird mir fehlen»

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Serena ist Krankenpflegerin. Sie hat drei Jahre in Rom studiert. Doch wie viele andere Fachkräfte findet sie in Italien keine Arbeit. In Neapel, wo Serena herkommt, ist die Situation noch dramatischer als im Norden.

Die Jugendarbeitlosigkeit beträgt hier 50 %. In manchen Stadtteilen gar 80 %. Die 25-Jährige ist deshalb froh, nun in einem Spital in Hamburg eine Anstellung gefunden zu haben.

Es wird ihre erster fester Arbeitsplatz sein. «In Neapel ist mein Zuhause. Ich weiss, es wird mir fehlen. Ich will hier zwar weg, aber nur, weil ich mir hier keine Zukunft aufbauen kann.

Doch im Bewusstsein der meisten Italiener schlägt sich das nicht nieder – oder zumindest glauben sie nicht, dass ein möglicher Aufschwung auch im persönlichen Lebensumfeld im direkten Zusammenhang mit Regierungspolitik steht.

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Serena büffelt Deutsch für ihren Job in Hamburg
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Das Geld reicht trotzdem nicht

Denn noch immer liegt der Beschäftigungsgrad in Italien sehr tief. Nur 58 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung geht einer Arbeit nach. 34 Prozent der Italiener suchen gar keinen Job. Das sind junge Menschen, Frauen, aber auch Arbeitsfähige über 50 Jahren.

Gleichzeitig müssen vier von zehn Familien monatlich auf die eigenen Ersparnisse zurückgreifen. Ein Drittel aller Befragten lebt laut «Rapporto Italia» trotz Ausbildung und Beruf auch noch vom Geld der Eltern und Grosseltern.

Italiens Jugend sucht ihr Glück immer häufiger im Ausland
Legende: Italiens Jugend sucht ihr Glück immer häufiger im Ausland SRF

Kein Wunder, dass viele junge und gut ausgebildete Italiener deshalb ihr Glück im Ausland suchen. So sind zwischen 2005 und 2015, am Höhepunkt einer langen Wirtschaftskrise, über 10’000 Ärzte ausgewandert.

Pietro: «Ohne Beziehungen ist es schwierig, einen Job zu finden.»

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Pietro ist Napolitaner und hat nun einen Job in einem Spital in Hamburg gefunden. Der junge Krankenpfleger büffelte während 6 Monaten intensiv Deutsch. Denn nur wer Sprachniveau B2 erreicht, wird als Krankenpfleger angestellt. Solange das Deutschniveau zu tief ist, werden die jungen Leute in Deutschland nur als Helfer verpflichtet.

«Die meisten jungen Italiener sind gezwungen wegzugehen, weil es einfach keine Jobs bei uns gibt. Es gibt viele gut ausgebildete Fachkräfte – aber keine Arbeitsplätze.»

Die allgegenwärtige Korruption macht den jungen Leuten zusätzlich zu schaffen. «Wenn ich einen Onkel hätte, der in einem Krankenhaus Arzt wäre, dann hätte ich vielleicht eine Stelle gefunden. Das ist nicht nur im Gesundheitswesen so, alles in Italien funktioniert in dieser Weise.»

Jetzt arbeiten sie in der Schweiz, Deutschland oder Frankreich – nachdem ihr Heimatland Hunderttausende von Euro in ihre Ausbildung gesteckt hat. Volkswirtschaftlich ist für Italien dieser Auszug der «Cervelloni», der «Brain-Drain» gut ausgebildeter Fachkräfte, fatal.

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Das Ausbildungsangebot entspricht nicht dem Stellenangebot
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Wer bleibt, schimpft lieber über die Regierung oder die Politik – und erteilt ihr bei der nächsten Wahl einen Denkzettel.

Italiens Kurzzeitgedächtnis

Gian Maria Fara, der Präsident von Eurispes, geht mit seinen Landsleuten hart ins Gericht: «Einerseits sind sie die ersten, die ihren Nachbarn der Steuerhinterziehung bezichtigen, gleichzeitig vergessen sie aber auch schnell, dass sie erst gestern selbst ohne Rechnung Geld steuerfrei erhalten haben.»

Silvio Berlusconi (Forza Italia): Für viele immer noch Garant für Recht und Stabilität
Legende: Silvio Berlusconi (Forza Italia): Für viele immer noch Garant für Recht und Stabilität Keystone

«Die Italiener haben vor allem ein Kurzzeitgedächtnis … anders wäre es auch nicht zu erklären, warum sie einem 82-Jährigen und in letzter Instanz Verurteilten wieder ihre Stimme geben wollen!»

Silvio Berlusconi sonnt sich in diesem neuen politischen Frühling. Viele sehen ihn angesichts der Anzahl und des Erfolgs populistischer Parteien und Gruppierungen sogar als Garant für Recht und Stabilität.

Mitte-Links, allen voran Matteo Renzi, selbst fast zwei Jahre Regierungschef und selbsternannter «Verschrotter» des alten ineffizienten Italiens, droht bei diesen Wahlen auf der Strecke zu bleiben. So wie viele Reformvorhaben, welche das Land wieder aus Krise und Rezession führen sollten.

Italien bleibt ein Patient, dessen Heilung schon viele hat verzweifeln lassen.

DOK-Film: «Italiens Krisengeneration»

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