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Junge unterstützen ihre Eltern – Selbstverständlichkeit oder Überforderung?
Aus rec. vom 16.09.2024.
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«Young Carers» «Nein sagen ist keine Option» – Kinder unterstützen ihre Eltern

Tausende Kinder und Jugendliche übernehmen Aufgaben, um die sich normalerweise Erwachsene kümmern. «Young Carers» mit Migrationshintergrund helfen ihren Eltern, sich in der Schweiz zurechtzufinden, indem sie für sie dolmetschen – eine Aufgabe, die oft unterschätzt wird und wenig Anerkennung findet.

Shazna Leusin war gerade mal zehn Jahre alt, als man sie mit einer Bekannten aus der tamilisch-muslimischen Community zu einem Termin bei einer Frauenärztin schickte. Ihre Aufgabe: das Gespräch zu übersetzen. 

Doch was die Bekannte der jungen Shazna anvertraute, brachte diese in Verlegenheit: «Sie sagte mir, sie habe beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann Schmerzen», erinnert sich Shazna Leusin heute. Als Mädchen sei sie mit derart intimen Schilderungen überfordert gewesen und fand keine Worte dafür.

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Shazna Leusin macht diese Übersetzungsarbeit gratis
Aus rec. vom 16.09.2024.
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Auch heute übernimmt die mittlerweile 30-Jährige anspruchsvolle Übersetzungsarbeit für ihren Vater – sei es bei Gesprächen mit Behörden, dem Verfassen von Briefen oder der Kommunikation mit der Versicherung und dem Vermieter.

Besonders bei Arztbesuchen ist es Shazna Leusin wichtig, dass ihr Vater versteht, worum es geht. 

Schlechtes Gewissen wiegt schwer 

Shazna Leusin Mutter ist an Brustkrebs verstorben, weil sie jahrelang keine Vorsorgeuntersuchung wahrnahm – nicht zuletzt wegen der Sprachbarriere. Das schlechte Gewissen plagt die Social-Media-Managerin noch immer.

Mein Vater hat viel für mich geopfert. Jetzt kann ich ihm etwas zurückgeben.
Autor: Shazna Leusin War als Kind «Yound Carer»

Als Kind empfand sie es manchmal als Last, ihren Eltern immer wieder Hilfe leisten zu müssen. Heute, neun Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, plagen sie Vorwürfe, nicht genug für ihre Mutter getan zu haben.

Es ist für sie selbstverständlich, den Vater zu unterstützen: «Er hat viel für mich geopfert. Als Immigrant musste er viel aufgeben. Jetzt kann ich ihm etwas zurückgeben.» 

Jedes achte Kind leistet Unterstützungsarbeit 

In der Schweiz leistet schätzungsweise jedes achte Kind zwischen 10 und 15 Jahren Unterstützungsarbeit für Erwachsene. Oft geschieht dies im Verborgenen, besonders wenn es um die eigenen Eltern geht.

Wer sind «Young Carers»? 

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«Young Carers» sind Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene («Young Adult Carers»), die regelmässig Verantwortung für pflegerische, emotionale oder administrative Aufgaben in ihrer Familie übernehmen.

Sie unterstützen kranke, behinderte oder anderweitig hilfsbedürftige Angehörige – sei es durch körperliche Pflege, Haushaltsaufgaben oder emotionale Unterstützung.

Besonders betroffen sind Kinder, deren Eltern aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen oder Sprachbarrieren Unterstützung benötigen. 

Laut einer Studie der Careum Hochschule Gesundheit in Zürich aus dem Jahr 2017 sind 51’000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz «Young Carers».

Wie viele davon einen Migrationshintergrund haben, wurde in dieser Studie nicht erfasst.

 

SRF rec.-Reporterin Sofika Yogarasa zählt sich selbst zu den sogenannten «Young Carers». Bereits als Kind stand sie ihren Eltern als Übersetzerin zur Seite.

Ihre Eltern sind in den 90er-Jahren von Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet. Bis heute sind sie auch gelegentlich auf ihre Unterstützung angewiesen.

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Kriegsflüchtlinge in der Schweiz – Verdrängen des Traumas
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«Nein sagen ist keine Option», erklärt Sofika Yogarasa. In einer kollektivistischen Gesellschaft wie der tamilischen Gemeinschaft ist die Fürsorge für die Familie eine Selbstverständlichkeit – auch wenn dies grosse Verantwortung bedeutet.

Yogarasa kennt dieses Gefühl nur zu gut: «Ich habe seit meiner Kindheit so oft geholfen, dass ich manchmal einfach keine Lust mehr habe. Danach mache ich mir aber Vorwürfe.»

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Wenn man Grenzen setzt, hat man sofort ein schlechtes Gewissen
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Die 28-Jährige macht sich Vorwürfe, weil sie, ähnlich wie Shazna Leusin, das Gefühl hat, nicht genug für ihre Eltern zu tun. «Meine Eltern hatten es nicht leicht. Als sie als Flüchtlinge in die Schweiz kamen, mussten sie sofort viel und hart arbeiten», erklärt die SRF-Reporterin.

Sie möchte Verständnis schaffen für Menschen, die wie ihre Eltern nie perfekt Deutsch gelernt haben und sich auch den Besuch einer Sprachschule nicht leisten konnten.

Traumata erschweren das Lernen 

Matthis Schick, leitender Arzt der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich, bestätigt, dass die Lernfähigkeit von Geflüchteten beeinträchtigt sein kann, wenn diese an psychischen Traumafolgestörungen leiden: «Wenn man ständig Angst vor der Abschiebung hat, sich um kranke Eltern im Herkunftsland sorgt oder keine Arbeit oder Wohnung findet, ist der Kopf nicht frei genug, um sich mit Vokabeln zu beschäftigen.»

Erschwerend komme hinzu, dass geflüchtete Menschen häufig wenig Bildungserfahrung hätten, was den Spracherwerb noch schwieriger macht. Es ist nur allzu verständlich, dass Kinder ihren Eltern helfen wollen, auch wenn diese Hilfe sie manchmal überfordert – so wie damals bei Shazna Leusin.

Heute ist sie selbst Mutter und sitzt mit ihrer Tochter am Küchentisch. Vor ihnen liegt ein Brief des Kantons. Die Zehnjährige kann ihn zwar flüssig lesen, versteht aber nur Bahnhof. «Wie soll ein Kind, das gerade lesen lernt, dieses Behördendeutsch übersetzen?», fragt sich die dreifache Mutter. Selbst für deutschsprachige Erwachsene können solche Schreiben eine Herausforderung sein.

Überfordert und ausgebrannt 

Auch Semira Abebe kam als Mädchen oft an ihre Grenzen. Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihren Eltern und vier Geschwistern aus Eritrea in die Schweiz. Als ältestes Kind lernte sie schnell Deutsch und übernahm viel Verantwortung für ihre Familie.

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Als Kind war es schwierig mit dieser Verantwortung umzugehen
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Als ihre Eltern den Wunsch äusserten, aus der Asylunterkunft in eine eigene Wohnung zu ziehen, musste die damals zwölfjährige Semira dies der Asylorganisation vermitteln.

«Ich habe wohl das Gespräch nicht so übersetzt, wie sich das meine Mutter vorgestellt hatte», erzählt sie. «Sie war wütend auf mich und sagte, ich hätte mir mehr Mühe geben müssen.»

Was ist Parentifizierung?

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Parentifizierung bezeichnet eine Umkehr der Rollen von Eltern und Kind bezeichnet.

Wird ein Kind parentifiziert, so übernimmt es Aufgaben und Verantwortungen, die nicht seinem Alter entsprechen und es überfordern: Es putzt regelmässig das ganze Haus, kocht für die jüngeren Geschwister, pflegt den kranken Vater, tröstet die Mutter oder bezahlt Rechnungen.

Parentfizierung kommt häufig bei Familien vor, die sich in einer schwierigen Situation befinden.

Langfristige und starke Parentifizierung kann zu psychischen Störungen wie sozialen Ängsten und Depressivität führen und bis ins Erwachsenenalter Auswirkungen haben.

Eine sogenannte adaptive Parentifizierung kann auch positive Effekte für das Kind haben.

Wenn die Aufgaben angemessen sind und das Kind Anerkennung erhält, kann es davon profitieren, beispielsweise durch gesteigertes Selbstwertgefühl oder das Erlernen von Sozialkompetenz, Verantwortungsbewusstsein und Empathie.

Das Gefühl, nicht genug zu tun und den Ansprüchen nicht genügen zu können, kennen viele «Young Carers». Der 35-jährige Rohan Patil kümmerte sich jahrelang um seine kranken Eltern.

Er fuhr sie zu Untersuchungen, wartete stundenlang im Auto vor dem Spital und war für seine Eltern jederzeit erreichbar. «Ich war eigentlich mein ganzes Leben lang blockiert und grösstenteils völlig überfordert», blickt er auf die schwierige Zeit zurück.  

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Es wird erwartet, dass man immer hilft
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Heute, acht Jahre nachdem seine Mutter verstorben ist, zieht Rohan Patil in seine erste eigene Wohnung. Er möchte sich vom Elternhaus und von den fast schon zwanghaften Gedanken, sich immer sofort um alle kümmern zu müssen, abgrenzen. «Ich war ständig in Alarmbereitschaft und hatte immer das Gefühl, es könnte etwas passieren.» 

Wertschätzung hilft 

Wegen der Care-Arbeit, die er leistete, wurde Rohan Patil selbst krank. «Der Dauerstress hat mich oft erschöpft. Ich konnte nicht mehr», erzählt er. Er habe schlecht gegessen, was langfristig zu einem Bauchspeicheldrüsentumor geführt habe.  

Rohan Patil konnte als Jugendlicher mit niemandem über seine Situation sprechen. Heute achtet er als Primarlehrer auf Kinder, die möglicherweise zu Hause Ähnliches erleben wie er früher. Er ist überzeugt: «Schon nur allein die Wahrnehmung und die Wertschätzung ihrer Leistung, kann wahnsinnig viel ausmachen.»

SRF 2, 23.09.24, 22:30 Uhr;stal

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