SRF: Der offizielle Feiertag des 100. Jubiläums war im August – warum machen «NETZ Natur» und «Einstein» erst jetzt einen Spezialtag aus dem Nationalpark?
Andreas Moser: Wir haben uns nach der Natur gerichtet, nicht nach einem offiziellen Datum. Wir wollten im Nationalpark sein, wenn in der Natur am meisten läuft, wenn man den Zuschauern die spannendsten Dinge live zeigen kann. Und das ist eindeutig jetzt im Herbst – vor allem wegen der Hirschbrunft, aber auch wegen der Murmeltiere.
Was erwartet die Zuschauer genau?
Sie sollen die Natur wirklich live erleben. Wir wollen zeigen, wie die Tiere im Alltag leben, wie sie da herumstehen, schlafen, furzen. Wir wollen nicht nur das Spektakuläre zeigen, das man in einem Dokumentarfilm zusammenrafft. Damit wir begreifen: Das hat etwas mit uns zu tun; das sind Zeitgenossen. Die Zuschauer erwartet also eine ganz andere Art der Annäherung an die Tiere. Wir hatten 30 Kameras mit Bewegungsmeldern installiert, die über 1 Jahr im Park im Einsatz waren. Ganz egal, ob da jetzt etwas Stinknormales oder Aufregendes passiert: Wir sind dabei und beobachten.
Wo standen diese Kameras?
An besonders interessanten Punkten über den ganzen Park verteilt. Viele Gebiete sind für Parkbesucher nicht zugänglich, dort wurden die Kameras teilweise von Parkwächtern und unseren Teams mit Spezialbewilligung betreut. Das Faszinierende daran ist der Unterschied zum gewöhnlichen Filmen: Wenn du eine bediente Kamera hast, hast du immer eine Beziehung als Fremder zu den Tieren – oder du bist in grosser Distanz mit starken Teleobjektiven. Doch mit diesen installierten Kameras ist man wirklich mitten unter ihnen. Wir haben stimmliche Äusserungen, die ich nie so erlebt habe…
… geben Sie uns ein Beispiel?
Da ist eine Suhle – also Wasserpfützen mit Schlamm – und darin rollen sich die Hirsche, um ihre Parasiten los zu werden, von denen sie im Sommer ziemlich geplagt werden. Und da erscheint eine Gruppe männlicher Hirsche; ihre Geweihe sind noch im Bast, also im Aufbau. Das heisst sie können die Geweihe nicht benutzen, weil sie noch sehr empfindlich sind.
Zuerst kommt ein junger Stänz, der verscheucht mit einem kräftigen Laut einen der Jüngeren und setzt sich selbst in die Suhle. Dann erscheint ein richtig grosser Hirsch, der mit einer ganz ruhigen Gesetztheit auf den jungen Stänz zugeht. Der steht auf und wird richtig wütend. Doch der ältere hebt nur den Kopf – mit einer Autorität! Da gibt es nichts mehr zu diskutieren – der Jüngere hat einfach zu gehen. So etwas müssen wir gar nicht kommentieren; das lassen wir die Leute selbst entdecken.
Eine Beziehung zwischen Mensch und Tier herstellen: Sehen Sie das als Ihren Auftrag?
Ich bin kein Missionar. Ich bin ein Übersetzer, ein Interpret. Ich versuche, den Tieren eine verständliche Stimme zu geben. Damit wir merken: Wenn der Hirsch in seiner Suhle liegt und einen Rülpser herauslässt, ist das nicht viel anders als bei Menschen in einer Beiz. Da gibt es so viele Anknüpfungspunkte.
Die Live-Sendung moderieren Sie zusammen mit den «Einstein»-Moderatoren aus dem Nationalpark. Wie platziert man sich da am besten?
Wir haben natürlich geschaut, wo die besten Plätze sind, um die Tiere dann auch wirklich zu sehen. Aber es ist ein grosses Risiko dabei, weil es natürlich heftig schneien könnte und dann sehen wir gar nichts. Aber das ist eben die Herausforderung und das, was eine Live-Sendung ausmacht.
Wie gehen wir damit um? Wie zeigen wir Pflanzen, die unter einer Schneedecke liegen? Dann müssen wir sie einfach suchen. Bei den Ameisen haben wir eine Endoskop-Kamera dabei. Wir können also auch in den Bau schauen, wenn es sein muss. Wir suchen es nicht gerade, aber wenn die Tiere nicht draussen sind, dann müssen wir halt zu ihnen hinein gehen. Die Natur bestimmt – wir müssen uns arrangieren. Und das ist das Tolle für den Zuschauer: Es wird immer interessant sein; egal, was passiert.
War es schwierig, den Nationalpark für die Live-Sendung zu «verkabeln»?
Wir haben nicht gerade den ganzen Wald verkabelt. Aber es ist nicht einfach, mit der ganzen Technik hinein zu kommen. Wir können keine Transportmittel verwenden: Das Material transportieren jetzt 15 Menschen. Bei der Energieversorgung müssen wir mit einem besonders leisen Generator arbeiten, der weder die Natur noch Besucher stört. Wir müssen mit einer Parabolantenne 8 Kilometer vom Gegenhang in den Park hinein einen Richtstrahl senden, damit wir das Richtsignal überhaupt aus diesem engen Tal herausbekommen. Es gibt keinen Natel-Empfang und nichts.
Sie filmen seit Jahrzehnten aus dem Nationalpark – was war ihr eindrücklichstes Erlebnis?
Zum Beispiel war da die erste Bartgeier-Freisetzung. Vorher durfte ich zum ersten Mal überhaupt den Schlupfakt eines Bartgeiers filmen – mit einem Geier, den wir dann in die Schweiz begleitet haben. Der ist heute, 23 Jahre später, noch immer da!
Für unseren Dokumentarfilm «100 Jahre Einsamkeit», der am Abend in «NETZ NATUR» läuft, haben wir bewusst auch den ehemaligen Nationalparkdirektor Klaus Robin seine Erinnerungen von damals am Ort der Geier-Freilassung erzählen lassen.
Woher kommt Ihre Leidenschaft für die Tiere?
Wir sind auf einer Ebene. Wir sitzen im selben Boot. Es ist die Arroganz der menschlichen Spezies, die sich – historisch betrachtet – über den Ackerbau von der Natur entfernt hat. Wir haben zu viel auf zu enger Fläche angebaut; die Natur will das zurück regulieren und wir müssen uns dagegen wehren, damit wir etwas ernten können. Das führt zu einem permanenten Konflikt.
Interessanterweise haben indigene Völker diese Partnerschaft mit der Natur noch immer in sich. Ich bin überzeugt, dass auch wir dieses Gefühl dafür in uns haben, dass man mit den Tieren nicht alles tun darf. Ich behaupte sogar, dass das ein uraltes Erbe aus indigener Zeit ist. Und das heute manchmal seltsame Blüten treibt, etwa wenn Tierschützer Laborratten befreien, die ja gar keine Chance haben, in der Natur zu überleben.