SRF: Herr Haller, die Devise der Gründerväter des Nationalparks war: Die Natur sich selbst überlassen. Wie war denn der Zustand der Natur, als sie vor 100 Jahren unter Schutz gestellt wurde?
Heinrich Haller: Abgelegen, naturnah, aber doch von den Einflüssen früherer, auch intensiver Nutzung geprägt. Dies jedenfalls in tieferen Lagen im Waldbereich.
Was waren das für Einflüsse?
Am Ofenpass beispielsweise wurde viel Bergbau mit entsprechender Erzverhüttung betrieben – deswegen der Name Ofenpass. Dafür hat viel Waldrodung stattgefunden. Für Fachaugen sind einige Kahlschläge noch heute zu sehen. Es fand auch Weidenutzung statt, aber nicht sehr intensiv. Das Gelände ist sehr karg und nicht überall geeignet, beweidet zu werden.
Das Vorhaben war, die gesamte Tier- und Pflanzenwelt ihrer natürlichen Entwicklung zu überlassen und diese dann unter wissenschaftliche Beobachtung zu stellen. Gab es Überraschungen in der Entwicklung der Natur?
Ja, die Gründer haben sich doch noch ein paar Illusionen gemacht, was den Schutz eines Refugiums anbelangt. Sie sind davon ausgegangen, dass man mit dem Nationalpark ein Stück Heimat, stellvertretend für viel Verlorenes schützen könnte. Und das ist in dieser Form sicher nicht Tatsache geworden. Die Raumansprüche für ein solches Vorhaben, die wären noch sehr viel grösser.
Der Park war zu klein?
Rothirsche oder gar Grossraubtiere finden in diesem Nationalpark nie und nimmer über das ganze Jahr hinweg Platz. Das gilt schon für einzelne Tiere und natürlich erst recht, wenn es um eine überlebensfähige Population geht. Heute ist klar, dass der Nationalpark solchen Tieren nur einen Teil-Lebensraum bieten kann.
Gilt dann noch der Anspruch eines Freiluftlabors?
Naja, alle verlassen den Park ja nicht. Denken Sie an die vielen Kleinlebewesen, die natürlich ein viel kleineres Areal benötigen.
Ist es gelungen zu sehen, was passiert, wenn sich der Mensch zurückzieht?
In gewissen Bereichen schon. Man hat intensive Studien gemacht, vor allem auf den ehemals landwirtschaftlich genutzten subalpinen Weiden. Dort war man davon ausgegangen, dass die Wiederbewaldung sehr viel rascher vonstatten gehen würde als es dann tatsächlich der Fall war. Man hatte damals keine Erfahrung mit der Beweidung durch Widtiere.
Was war passiert?
Durch die Wildtiere entstanden Kurzrasenweiden, die einen ausserordentlich dichten Gras- und Kräuterwuchs haben. In diesem Grasfilz ist es extrem schwierig Wurzeln zu schlagen, gerade für die umliegenden Bergföhren – das ist der Hauptbaum im Nationalpark.
Und jetzt ist aber die Ironie des Schicksals, dass die vielen Hirsche durch ihren Tritt die Grasnarbe verletzen und dadurch Keimungsmöglichkeiten für Bergföhren schaffen. Wir sehen auch, dass immer mehr junge Arven hineinkommen und ich würde durchaus erwarten, dass im Urzustand noch mehr Arven und auch Lärchen vorhanden waren als es jetzt der Fall ist.
Als die Hirsche einwanderten, schürte das bestimmte Ängste.
Ein Waldschädling war ja auch der Hirsch, der nach der Gründung des Nationalparks wieder eingewandert ist.
Als die Hirsche eingewandert sind, haben sie sich sehr stark und schnell entwickelt. Daraus haben sich bestimmte Ängste ergeben. Hirsche sind Pflanzenfresser, die können den Jungwuchs stark beeinflussen. Man fürchtete, die Existenz des Waldes sei bedroht. Damals gab es jagdliche Beteiligungen von Parkpersonal, es gab innerhalb des Parks Abschüsse. Es gab Austreibaktionen. Das ist aber aus der damaligen politischen Situation vor etwa 30 Jahren heraus zu verstehen.
Mittlerweile wissen wir ganz genau, dass die Befürchtung, die Existenz des Waldes sei bedroht, nicht zutrifft. Heute hat man sich mehr auf die Zielsetzung des Parks besonnen, wonach die Pflanzenfresser sicher wirken dürfen, auch solche, die zum Tod von Bäumen führen.
2005 ist der erste Bär über Südtirol in den Park gekommen. Hatten Sie damals gedacht, dass er sich bis heute schon angesiedelt hätte?
Nach der Bestandstützung im Trentino war absehbar, dass die Bären kommen. Mit zwei Ausnahmen waren sie dann auch alle da; aber nur Einzelindividuen, junge, männliche Tiere. Ich habe immer gesagt, dass es sehr lange dauern wird, bis es zu einer wirklichen Wiederbesiedelung kommt – bis also auch Weibchen nachkommen und es Fortpflanzung gibt. Das ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
Und die Wölfe?
Die werden schneller kommen, denn sie sind wesentlich dynamischer. Wir haben ja das Rudel am Calanda – das mag ich den Churern sehr gönnen – es ist natürlich aus meiner Perspektive schön, diese Art der Natur im Umfeld einer Kantonshauptstadt wieder zurück zu wissen. Ich persönlich hätte diese Wölfe gerne auch im Nationalpark. Aber bisher ist keiner sesshaft geworden.
Wir Menschen neigen dazu, unsere Umwelt zu einfach zu sehen.
Reichen 100 Jahre überhaupt, um eine erste Bilanz zu ziehen?
Eine erste sicherlich. Wir wissen jetzt beispielsweise, dass es noch etwa 500 Jahre dauern wird, bis auf den ehemaligen Weiden wieder ein ursprünglicher Wald aus Bergföhren steht. Wir wissen, dass wir schnell einfache Erkenntnisse zusammen haben – wie alt eine Gämse wird und wie viele Junge sie hat oder wann das Edelweiss blüht. Das ist alles kein Problem. Aber die komplexen Zusammenhänge zu erfassen, wie alles miteinander wirkt, das ist eine Herausforderung. Wir Menschen neigen dazu, unsere Umwelt zu einfach zu sehen. Aber es ist eben nichts fix. Das ist sicher eine der entscheidenden Erkenntnisse.
Denken Sie, dass der Klimawandel bei der weiteren Entwicklung eine Rolle spielen wird?
Ja, das tut er schon heute. Beispielsweise werden Schnecken, Schneehasen und Alpenschneehühner heute weiter oben beobachtet als dies vor 100 Jahren der Fall war. Es geht aufwärts. Auch bei den Pflanzen. Aber wir haben ja bei uns noch Spielraum für die Ausbreitung – wir sind auf 3000 Meter. Es gibt sicher Gebiete, die von solchen Veränderungen noch stärker betroffen sein werden als wir.
Wenn Sie kurz zusammenfassen – wie lautet denn die wichtigste Erkenntnis?
Mehr Vertrauen in die natürliche Entwicklung. Das heisst nicht, dass man jede Landschaft einfach sich selbst überlassen kann – aber bei uns hat‘s geklappt.