«Zahlenblind» nennt uns der Mathematiker John Allen Paulos in seinem gleichnamigen Bestseller. Die Unfähigkeit, in ausreichender Weise mit den fundamentalen Begriffen von Zahl und Wahrscheinlichkeiten zurechtzukommen, plage viel zu viele ansonsten recht gebildete Menschen. Und statt uns redlich zu bemühen, sie trotzdem zu verstehen, stellt Paulos einen «perversen Stolz auf mathematisches Unverständnis» fest.
Doch das ist vielleicht nur Selbstschutz, denn unser Gehirn scheint tatsächlich nicht für bestimmte Zahlenphänomene gemacht. Das sei auch nicht weiter verwunderlich, geben Biologen und Psychologen zu bedenken. Denn mit vielen Zahlenproblemen musste sich das Gehirn in der Menschheitsgeschichte bis vor kurzem gar nicht beschäftigen.
Mit drei Zahlen-Phänomenen hat unser Gehirn besonders viel Mühe: Mit sehr grossen Zahlen, mit Wahrscheinlichkeiten und – paradoxerweise – mit der verführerischen Wirkung von Zahlen.
Sehr grosse Zahlen
Ob eine Million, eine Milliarde oder eine Billion: Für viele ist das einfach «viel». Statt zu rechnen, nutzen wir dabei Faustregeln, so genannte Heuristiken. Zum Beispiel geben wir der linken Ziffer einer mehrstelligen Zahl ein viel höheres Gewicht als den Ziffern weiter rechts.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie wollten ein Occasions-Auto kaufen. Sie haben zwei in die engere Wahl genommen: Eines hat 79‘517 Kilometer auf dem Buckel, das andere 80‘057. Ein Auto mit mehr gefahrenen Kilometern ist natürlich bei sonst gleichen Bedingungen weniger wert. Schliessen Sie jetzt die Augen und versuchen sich an die genaue Kilometerzahl der beiden Autos zu erinnern.
Effektive Verkäufertricks
Die meisten Menschen, so konnten Forscher zeigen, runden die 79‘517 Kilometer auf 79‘000 oder gar 70‘000 ab und die 80‘057 auf 80‘000. In ihrem Gedächtnis bleibt also die erste Ziffer gut haften, die anderen Ziffern hingegen viel weniger. Nun ist ein Auto mit mehr gefahrenen Kilometern natürlich bei sonst gleichen Bedingungen weniger wert.
Im obigen Beispiel war der Unterschied den Käufern im Durchschnitt rund 200 Franken wert, während ihnen ein gleich grosser Kilometer-Unterschied ohne Veränderung der ersten Ziffer (also beispielsweise zwischen 80‘100 und 80‘640 Kilometer) gerade mal rund 10 Franken wert war. Autos mit gefahrenen Kilometern knapp unter einer 10'000er-Schwelle zu verkaufen, lohnt sich also für die Autohändler.
Das gleiche Prinzip machen sich andere Geschäftsleute schon lange zu Nutze - zum Beispiel mit Verkaufspreisen, die mit «99» enden.
Wahrscheinlichkeiten
Aber nicht nur grosse Zahlen, auch Wahrscheinlichkeits-Zahlen sind dem Menschen offenbar ein Gräuel. Was bedeutet zum Beispiel die Aussage, dass es morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen wird? Das fragte der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer für eine Studie ganz unterschiedliche Menschen.
Einige meinten, es werde am nächsten Tag während 30 Prozent der Zeit regnen, also rund acht Stunden, andere, dass es in 30 Prozent der Regionen regnen würde. Eine Frau hatte sogar eine ganz pfiffige Erklärung: «30 Prozent bedeuten: Nur drei von zehn Meteorologen denken, dass es regnen wird.» Dabei meinen Meteorologen mit einer solchen Aussage, dass es in drei von zehn Tagen mit einer entsprechenden Ausgangslage tatsächlich regnet.
Probleme auch bei Fachleuten
Gigerenzer konnte übrigens diese Unfähigkeit, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, sogar bei Experten wie Ärzten nachweisen. Das ist deshalb besonders gravierend, weil die Resultate von medizinischen Tests immer nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit richtig sind. Wer das nicht richtig versteht, kann auch seine Patientinnen und Patienten nicht richtig informieren.
Manipulierbar durch Zahlen
Trotz der Schwierigkeit, die wir mit Zahlen haben: Wir lassen uns von ihnen beeinflussen. Forscher konnten zum Beispiel – wiederum am Beispiel «Auto» – zeigen, wie mächtig so genannte «Anker»-Zahlen sind. Das sind Zahlen, die uns unbewusst beeinflussen.
Sogar sehr erfahrene Autoverkäufer liessen sich beim Schätzen des Werts von Occasions-Autos massgeblich von solchen Zahlen beeinflussen. Fragte man sie vorher nämlich beiläufig, ob der Wert wohl höher oder niedriger als 5‘000 Franken sei, so schätzten sie den Wert des Autos anschliessend im Durchschnitt auf 3‘562 Franken. Fragte man sie hingegen vorher, ob das genau gleiche Auto mehr oder weniger als 2‘800 Franken wert sei, kamen sie in ihrer Einschätzung anschliessend auf durchschnittlich nur noch 2‘520 Franken.
Je nach «Anker», den man setzte, unterschieden sich also die Bewertungen von Experten um mehr als 1000 Franken. Ähnliche Befunde zeigt Forschung aus ganz anderen Bereichen.
Einfluss auf wichtige Entscheide
Zum Beispiel konnten andere Forscher zeigen: Nachwuchs-Richterinnen und -Richter liessen sich in einem Experiment zur Beurteilung eines Vergewaltigungsfalls von offensichtlich parteiischen Zwischenrufern aus dem Zuschauerraum beeinflussen. Diese riefen entweder «Geben Sie ihm doch einfach fünf Jahre!» oder «Sprechen Sie ihn doch einfach frei!» dazwischen.
Obwohl die meisten Richterinnen und Richter sagten, das habe sie nicht beeinflusst, war das Strafmass beim Zwischenruf «Freisprechen!» im Durchschnitt mehrere Monate tiefer als beim Zwischenruf «Fünf Jahre!».
Unsere Schwierigkeiten mit Zahlen kann also ernsthafte Konsequenten nach sich ziehen. Entsprechend fordern Experten schon früh in der Schule eine bessere Bildung – gegen die Zahlenblindheit.