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Einstein Online Analphabetinnen in der Schweiz: Lernen kennt keine Altersgrenze

Der Mythos, dass Erwachsene schlechter lernen können als Kinder, ist überholt. Auch Erwachsene können Skifahren, Klavier spielen oder Englisch lernen. Bestes Beispiel sind Analphabetinnen: Sie lernen auch im hohen Alter Lesen und Schreiben. Es dauert nur sehr viel länger.

Vor zweieinhalb Jahren kam Hana* in die Schule. In ihrer ersten Unterrichtstunde wusste sie nicht, wie man ihren Namen schreibt. Oder wie man einen Stift hält. Oder dass man einen Stift zum Schreiben benutzt – und nicht etwa den Radiergummi. Damals war Hana 30 Jahre alt.

Autonomie im Alltag

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Die Alphabetisierungskurse des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks Zürich richten sich an Migrantinnen. Die Kursteilnehmerinnen haben keine oder eine sehr geringe Schulbildung – oder können die lateinische Schrift nicht lesen und schreiben.

In ihrer Heimat ist die Syrerin nie in die Schule gegangen. Jetzt besucht sie den Alphabetisierungskurs des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks SAH Zürich (siehe Box). Zwei- bis dreimal in der Woche hat sie Unterricht. Schliesst Hana auch die letzten beiden der insgesamt sechs Unterrichts-Module erfolgreich ab, kann sie gut genug lesen und schreiben, um einen weiterführenden Sprachkurs zu machen. Das Fernziel lautet: eine Arbeitsstelle finden. Doch der Weg dahin bleibt lang und beschwerlich.

Alphabetisierung: schwierig, aber machbar

«Die erwachsenen Analphabetinnen brauchen viele Jahre, um richtig Lesen und Schreiben zu lernen», sagt Elsbeth Renggli. Seit sechs Jahren leitet die gelernte Ausbildnerin und Primarlehrerin Alphabetisierungskurse des SAH. Rengglis Erfahrung zeigt, dass die Frauen in jedem Alter Lesen und Schreiben lernen können: «Älteren Frauen haben vielleicht ein schlechteres Gedächtnis und brauchen länger. Aber auch sie können es sehr wohl noch schaffen.»

Der Eindruck der Pädagogin entspricht den Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Forschung. Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, erklärt: «Die Theorie, dass der Mensch im Laufe seines Lebens seine Lernfähigkeit verliert, ist längst überholt.» Zwar gebe es Phasen in unserem Leben, in denen unser Gehirn besonders gut lernt – doch das heisst nicht, dass es später damit aufhört: «Auch im Alter können wir Bemerkenswertes leisten», so der Neuropsychologe.

Dennoch haben viele Erwachsene das Gefühl, dass sie schlechter lernen als früher. Jäncke widerspricht diesem Eindruck nicht nur – er macht ihn sogar dafür verantwortlich, dass der Lernerfolg ausbleibt. «Wer glaubt, er könne sowieso nicht weit kommen, hat auch weniger Motivation», so Jäncke. «Wenn ein Erwachsener genauso viel Aufwand betreiben würde wie ein Kind, könnte er genauso gut Lesen und Schreiben oder eine neue Sprache lernen.» Unabhängig von seiner Vorbildung oder seinem Alter.

Kinder lernen besser – weil sie Zeit dafür haben

Kinder lernen besser als Erwachsene, weil sie es fünf Tage die Woche tun. Allein ihr Alltag hilft ihnen dabei, Fortschritte zu machen: vormittags Schule, nachmittags Hausaufgaben – und wenn etwas schief geht, können auch Mutter, Opa oder Schwester korrigieren. Elsbeth Renggli bestätigt: «Kinder lernen deshalb zu lesen, weil sie immer wieder lesen.»

In den drei Tagen ohne Schule vergesse ich vieles. Und muss es wieder lernen.
Autor: Hana Teilnehmerin im Alphabetisierungskurs des SAH

Die Kursteilnehmerinnen zu motivieren, auch neben dem Unterricht Hausaufgaben zu machen, ist hingegen ein täglicher, oft vergeblicher Kampf. Ausserhalb der Schulstunden, sagt Hana, habe sie schlicht keine Zeit. Da gehöre ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer Familie, den drei kleinen Kindern und dem Haushalt. Schulaufgaben haben da die letzte Priorität und fallen meist aus. Dass sie das daran hindert, grössere Fortschritte zu machen, ist der Syrerin bewusst: «Wenn ich in der Schule bin, geht es gut. Aber in den drei Tagen ohne Schule vergesse ich vieles. Und muss es wieder lernen.»

Auch Lernen muss gelernt werden

Im Kurs selbst gibt sich Hana grosse Mühe. Als Elsbeth Renggli einen Satz diktiert, steht er später fehlerfrei in ihrem Heft: «Ich gehe in die Migros.» Die 33-Jährige braucht lange, um die Aufgabe zu bewältigen. Allein den Stift zu führen ist für sie ein grosser Aufwand. Als sie den Stift absetzt, hat ihre Klassenkameradin Tanvika* den Satz längst fertig geschrieben. Allerdings ist die 43-Jährige in ihrer Heimat Sri Lanka acht Jahre zur Schule gegangen. Sie beherrscht die tamilische Schrift – und verfügt somit auch über ausgereiftere motorische Fähigkeiten.

«Ich gehe in die Migros» im Heft einer Kursteilnehmerin
Legende: «Ich gehe in die Migros»: Nach einer Weile steht der Satz fehlerfrei im Heft – ein Zwischenerfolg auf dem langen Weg zur Alphabetisierung. SRF/Maja Brankovic

Doch die Ursache, warum sich Hana schwerer tut als Tanvika, liegt nicht nur in ihren motorischen Defiziten. «Wer nie zur Schule gegangen ist, beherrscht die grundlegenden Arbeitstechniken nicht», erklärt Elsbeth Renggli. Zu Beginn der Kurse wusste Hana nicht, wie man etwas ausschneidet, wie man Klebstoff benutzt oder wie man einen Ordner auf- und wieder zumacht. Hana musste viel mehr lernen als die deutsche Schrift.

«Es wäre für die Frauen einfacher, wenn es nur das Lesen und Schreiben wäre», sagt Renggli. «Ein Grossteil ihrer Arbeit besteht darin, sich mit unserer Unterstützung und Anleitung erst einmal die fehlenden Basiskompetenzen anzueignen.» Und selbst dann wirkt die nicht vorhandene Schulbildung der Analphabetinnen nach. Die Pädagogin: «Für Hana ist das Wort <Üben> vielleicht heute noch ein Begriff ohne Bedeutung.» Tanvika hingegen hat viel eher eine Vorstellung davon, wie sie lernen kann, wenn die Lehrerin nicht anwesend ist.

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Vorkenntnisse haben auch Nachteile

Doch auch die Tamilin tut sich schwer: Sie hat Probleme, das Gehörte in deutsche Buchstaben und Wörter zu übertragen. «Wer eine andere Schrift lesen und schreiben kann, hat sich zwar schon eine Sprachlogik aufgebaut und kann von ihr profitieren», sagt Lutz Jäncke. «Alte Fähigkeiten können aber auch hinderlich sein.»

Denn: Folgt die neue Schrift einer völlig anderen Logik als die eigene, stiftet das vor allem Verwirrung. Der Neuropsychologe: «Ein Europäer, der zum Beispiel versucht, die chinesische Schrift zu lernen, hat massive Schwierigkeiten. Im Gegensatz zum Chinesischen basiert seine Schrift auf einer Buchstabenlogik und nicht auf visuellen Symbolen.»

Auch das Tamilische mit seinen andersartigen Lauten und filigranen Schriftzeichen hat mit der deutschen Sprache nicht viel gemeinsam. Jedes Mal, wenn sich Tanvika in die deutsche Schriftlogik eindenkt, muss sie ihre bereits ausgereiften Sprachareale im Gehirn hemmen – eine gewaltige Herausforderung.

Die Grenzen des Lernens

Und doch ist dem Lernerfolg beider Frauen im Prinzip keine Grenze gesetzt. «Eine unserer Kursteilnehmerinnen hat später sogar eine Lehre abgeschlossen», sagt Elsbeth Renggli und lächelt. Am Ende entscheiden vor allem Faktoren wie die familiäre Situation der Frauen, ihre Gesundheit und ihr Engagement darüber, wie gut sie Lesen und Schreiben lernen.

Und was möchte Hana noch erreichen? «Alles», sagt sie mit hoffnungsvollen, leuchtenden Augen, «schreiben, lesen, Schilder, Bücher: alles!» Ihre Hoffnung für die Zukunft ist gross. Heute aber geniesst sie vor allem ihre neu gewonnene Unabhängigkeit: «Wenn ich zum Unterricht fahre, sehe ich das Wort <LIMMATPLATZ>. Das ist sehr schön.» Auch wenn ihr Weg dahin sehr mühsam war.

* Name von der Redaktion geändert

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