20:00 Uhr
Gebäude 29, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Hier soll sich also das Drama abspielen, zu dem mich die «Einstein»-Redaktion in aller Eile beordert hat. «Nichts los...» – mit diesen Worten empfängt mich mein Kameramann Barthold vor dem Eingang. Und als ich mir drinnen einen ersten Überblick verschaffe, scheinen sich meine Erwartungen zu bestätigen. Im Lander Control Center, das wir nicht betreten dürfen, starren hinter einer riesigen Glasfront ein paar Programmierer und Ingenieure auf Zahlenkolonnen und besprechen Dinge, die wir nicht hören dürfen.
Nur im Forscherzentrum jenseits der Glasfront dürfen wir uns aufhalten. Doch hier hängen nur ein paar wenige müde Gestalten hinter ihren Laptops und versuchen, sich irgendwie zu beschäftigen. Ich hatte es geahnt: Weltraumforschung ist langweilig – und die Forscher auch. Wir gehen Kaffee trinken. Viel Kaffee.
20:30 Uhr
Gut vorbereitet? Nein, bin ich eigentlich nicht, weil ich so kurzfristig anreisen musste. Zum Glück sind alle, die ich hier anspreche, aussergewöhnlich freundlich zu uns. Vielleicht liegt es ja daran, dass wir vom Schweizer Fernsehen offensichtlich das einzige Kamerateam sind, das diesen Abend mitverfolgen will. Wenn ich mich so umschaue: Wen wundert’s?
Die Presseverantwortliche des DLR, Manuela Braun, erklärt mir, was stattfinden soll: Obwohl Philae auf dem Kometen Tschuri verschollen ist und schief auf dem Boden steht, erwarten die Experten, dass sie noch genug Energie aufbringt, um noch einmal Befehle zu empfangen und Daten zu liefern. Via Rosetta, den Orbiter, und dann noch 500 Millionen Kilometer bis zur Erde. Spätestens jetzt wird klar, dass hier ziemlich viel Knowhow im Einsatz sein muss – und ich wundere mich sehr, dass wir das einzige Presseteam sind.
20:45 Uhr
Im Foyer des Kontrollzentrums steht ein Modell der etwa kühlschrank-grossen Philae. Ich betrachte es und grüble: Vor zehn Jahren schiessen diese Leute hier zwei ziemlich kompliziert gebaute Gerätschaften per Rakete in den Himmel – alles genauestens zu dem Zweck berechnet, eine Dekade später damit einen nur vier Kilometer langen Steinbrocken zu erreichen, eine stabile Umlaufbahn einzunehmen und dann auch noch einen Lander abzusetzen!
Gut, Philae mag zweimal von der Oberfläche des Kometen abgeprallt sein und jetzt irgendwo in einem schattigen Loch stecken. Aber mich packt jetzt doch die Ehrfurcht: Chapeau! Was sind das für Menschen, die sich das alles ausgedacht und fertig gebracht haben? Und wie ticken solche Spezialisten?
21:00 Uhr
Hinter einem Laptop entdecke ich den Prototypen eines Nerds: dicke Brille, Rauschebart und Augen nur für die Zahlen auf seinem Monitor. Fortwährend kritzelt er etwa auf den Papierblock. Nach meiner Erfahrung gibt es von solchen, meist menschenscheuen Leuten nur selten gute Antworten. Ich spreche ihn trotzdem an und bitte um ein Interview. Und… – hoppla: Als hätte er nur darauf gewartet, endlich ein Ventil für seine Gedanken und Hoffnungen zu finden, bricht es aus ihm heraus.
Fred Goesmann, Physiker und Ingenieur, erklärt mir wortreich, was heute Abend für ihn und all die anderen Forscherinnen und Forscher, die gleich zurückkommen werden, auf dem Spiel steht. Er spricht nicht, wie ich es von Leuten seines Schlages gewohnt bin – sondern in einer Sprache, die mir unmissverständlich klar macht: Philae, dieses kleine Lander-Labor dort draussen auf dem Kometen, ist für fast alle Beteiligten zum vielleicht wichtigsten Bestandteil ihre Forscherlebens geworden – womöglich sogar zum Lebenswerk.
Zehn Experimente haben sie vorbereitet; acht haben schon erfolgreich funktioniert. Jetzt wollen die letzten beiden Teams, die bisher nur wenige oder gar keine Daten von Philae bekommen haben, auch noch zum Zuge kommen. Reicht Philaes Energie nicht aus, war ihre Arbeit umsonst.
Einer von ihnen ist Fred Goesmann selbst – und er sitzt auf heissen Kohlen: «Ja, natürlich war das ein Erfolg, wir sind da unten gelandet, verdammt!», sagt er, «aber jetzt will ich auch wissen, ob die Flöte, die wir vor zehn Jahren gebastelt, gelötet und gestimmt haben, auch wirklich spielt.» Die «Flöte»: Damit meint er ein Gerät, das Bodenproben vom Kometen chemisch analysieren kann. Woraus besteht er wirklich? Aber um das erforschen zu können, braucht er die Hilfe seiner italienischen Kollegen um Amalia Finzi-Ercoli vom Politecnico Milano.
21:30 Uhr
Die ältere Dame wirkt in sich gekehrt und sehr angespannt – ich lasse sie lieber in Ruhe und beobachte sie aus der Ferne. Mit ihrem Team wartet sie verzweifelt auf die eine Nachricht von Philae, dass ihr Bohrgerät auch wirklich so funktioniert, wie sie es geplant haben. Wenn der Bohrer dann auch noch trotz Philaes Schieflage im Stande wäre, in den Kometen einzudringen, dann – ja dann wären sie am Ziel ihrer Forscherträume angekommen! Aber es hilft alles nichts: Ohne Saft in den Batterien des Landers wird es keine Daten geben… 21:50 Uhr: Wo bleibt Philae?
22:05 Uhr
Über einen Lautsprecher nuschelt jemand etwas von «Kontakt» – urplötzlich verstummt das Stimmengewirr im mittlerweile vollen Forscherzentrum. Gab es tatsächlich einen Kontakt? Applaus brandet auf – und bricht seltsam schnell wieder ab, genauso schnell wie der Kontakt zum Lander.
Cinzia Fantinati, die Sprecherin des Kontrollzentrums, überbringt eine Nachricht von der Esa in Darmstadt: Um 22:05 Uhr habe es einen kurzen Kontakt zu Philae gegeben, der jedoch sofort wieder zusammengebrochen sei. Was das bedeutet? «Let’s see, what happens...», sagt Cinzia, lächelt unsicher und verschwindet wieder hinter die Glasfront ins Kontrollzentrum.
22:18 Uhr
Noch immer kein neuer Kontakt – viele Forscher hält es nicht mehr an ihren Plätzen. Einige scheinen ein kleines bisschen zu resignieren, vor allem Mitglieder der italienischen Equipe. War ihre Arbeit wirklich mehr oder weniger umsonst? Fred Goesmann atmet tief durch – er ist fürchterlich müde. Aber an Schlaf ist jetzt auf keinen Fall zu denken. Jetzt oder nie!... Ich fiebere mit; wer hätte das gedacht? Aber… Geduld!
22:20 Uhr
«We have a contact!» – «Oh, that’s perfect!». Was kaum noch jemand für möglich gehalten hat, tritt ein. Jubel bricht los, im Kontrollzentrum und vor allem bei den Forschern. Philae lebt – und mit ihr die Hoffnung.
22:50 Uhr
Mit dem bis jetzt stabilen Kontakt ist der erste Schritt getan – aber eben nur der erste Schritt. Jetzt wartet alles auf die Daten – und die kommen! Amalia Finzi-Ercoli fällt der Überbringerin der guten Nachricht, Cinzia Fantinati, um den Hals und bricht in Tränen aus: «Aber nein, Du musst doch nicht weinen!», sagt die und kämpft doch selbst mit den Tränen – so wie alle anderen um sie herum.
Journalistische Distanz? Pustekuchen! Auch wir, das Team vom Schweizer Fernsehen, fühlen mit. Und ich bin froh und stolz, dass ich diesen Moment miterleben darf, dass wir die einzigen sind, die ihn einfangen und festhalten dürfen.
23:30 Uhr
Das Bohrgerät hat seinen Dienst getan – und Fred Goesmann? Noch immer wartet er auf seine Daten. Hat das Bohrgerät wegen Phielaes Schrägstellung den Boden womöglich nicht erreicht und nur ins Vakuum des Weltraums gebohrt? Oder hat es den Kometen erwischt und Proben entnommen?
Plötzlich ist Goesmann überhaupt nicht mehr gesprächig – er stiert auf sein Laptop; Daten laufen ein! Nach schweigsamen Minuten murmelt er nur: «Donnerwetter, das Drecks-Ding hat funktioniert...» Auf den letzten Metern ist Philae doch noch über die Linie gestolpert. «Gestern hatte ich noch sechs Massenspektren, heute habe ich 420...».
Was das jedoch bedeutet, mag er mir jetzt noch nicht sagen. Und ob sich darin sogar Nachweise zu Aminosäuren, den Grundbausteinen von Leben, finden werden? «Keine Ahnung!». Was die Proben wert sind, wird sein Team erst in den kommenden Wochen oder Monaten heraus finden – egal jetzt. «Wir haben gezeigt, dass wir es können», sagt Goesmann, «verdammt noch mal!»
01:36 Uhr
So ein Happy End hätte ich in meinem Drehbuch nie schreiben können: Philae hält sogar noch etwas länger durch als gedacht. Ihre Energie reicht aus, um den Körper des Landers um etwa 35 Grad zu drehen und ihren Solarpanels damit womöglich mehr Sonnenlicht zu verschaffen. Und es werden weitere Fotos von der Landestelle gemacht, die noch immer niemand kennt.
Jetzt ist es aber wirklich gut: Philaes tapfere Batterien haben bis zum allerletzten Moment durchgehalten – und darüber hinaus. Der Lander schaltet in seinen Ruhemodus und überglückliche Forscher erzählen mir von der Hoffnung, dass er sich womöglich in wenigen Monaten nochmal melden wird. Ich würde es ihnen von Herzen gönnen… – doch jetzt tun wir alle es erstmal Philae gleich: abschalten, ausruhen und Energie tanken.