Die Anreise zum Pilgerort in Peru war seinerzeit beschwerlich. Die Gläubigen, die aus allen Himmelsrichtungen anreisten, mussten bis zu 4‘500 Meter hohe Pässe überwinden, um zum Tempelkomplex von Chavín de Huántar zu gelangen, 3‘150 Meter über dem Meeresspiegel. Für die Hochkultur der Chavín dürfte er die gleiche Bedeutung gehabt haben wie Mekka für die Muslime oder Rom für die Christen.
Erbaut wurde der weitläufige Tempel um 1300 vor Christus, über 2000 Jahre vor der Blüte der bekannten Inka-Kultur. Chavín war damit die früheste Hochkultur im Andenraum und gleichzeitig eine der ältesten der Welt. Sie prägte in den beiden Jahrtausenden vor dem Beginn unserer Zeitrechnung das Leben in dieser Region.
Ein ausgeklügeltes System aus Kanälen
Den grössten Teil der Anlage haben Archäologen der deutschen Firma Arctron nun in Zusammenarbeit mit Schweizer Fachleuten exakt vermessen, wie «Einstein» berichtet. Neben Laserscannern setzten sie Gleitschirmflieger mit Kameras und Octocopter ein: Fluggeräte mit acht Rotoren, die den Komplex aus der Luft exakt fotografierten und aufzeichneten.
Seit 1985 ist die Anlage als Unesco-Weltkulturerbe klassifiziert – nicht zuletzt wegen der findigen Erbauer, die bereits die Hydraulik beherrschten. Der Tempel liegt dort, wo zwei Flüsse ineinander münden. An dieser Stelle zweigten die Konstrukteure Wasser ab und leiteten es in unterirdischen Kanälen quer durch die Tempelanlage.
Der Archäologe John Rick von der Stanford University, der 20 Jahre lang Ausgrabungen vor Ort leitete und auswertete, interpretiert diese frühe Technologie auch als Demonstration von Macht: «Sie manipulierten das Wasser und kontrollierten es als Zeichen dafür, dass sie die Natur kontrollieren konnten.»
Zu Besuch bei einer mächtigen Gottheit
Der Besuch des religiösen Zentrums war zweifellos ein besonderes Erlebnis – wahrscheinlich nur für ausgesuchte Gläubige, die mit Opfergaben angereist waren. Sie durften im Tempel eine über 4 Meter hohe Figur der Hauptgottheit besuchen, die durch den Monolithen El Lanzón dargestellt wurde.
Der Weg dorthin führte sie durch unterirdische Galerien, die bis heute noch nicht allesamt freigelegt sind – beleuchtet durch Lichtschächte und erleuchtet durch Drogen. Die Auserwählten nahmen einen Extrakt aus dem San-Pedro-Kaktus ein, der Meskalin enthielt: ein Halluzinogen, das zu Realitätsverlust und zu tiefen, als religiös beschriebenen Glücksgefühlen führen kann.
Schritt für Schritt tasteten sich die Gläubigen so durch die düsteren Gänge bis zum El Lanzón vor, begleitet von geheimnisvollen Klängen aus Trompeten, die aus den Muscheln der Meeresschnecke Strombus galeatus gefertigt waren. Bis sie in einer engen Kammer schliesslich zum Allerheiligsten kamen: El Lanzón, die steinerne Gestalt eines Menschen mit Zügen einer Raubkatze, Krallen und Reisszähnen, in denen Schlangen gefangen sind.