Gottfried Keller, der Schweizer Nationaldichter, neu aufgelegt: Wozu, wird sich mancher fragen, der sich in der Schulzeit mit dem «Grünen Heinrich» quälte. Doch diese Neu-Ausgabe ist anders. Sie lebt, im wahrsten Sinn. Dass sie erstmals vollständig ist, stimmt zwar auch und ist ein Verdienst: In der Gesamtausgabe von Jonas Fränkel und Carl Helbling, entstanden 1926 - 1949, fehlen Gedicht-Kommentare und die Jugenddramen. Zudem sind 30 Aufsätze und Gelegenheitsgedichte nun erstmals veröffentlicht.
Ein Schaffensprozess in 36 Bänden
Doch die Lebendigkeit erhält die Neuausgabe durch ihr Konzept: Bei jedem Gedicht, jeder Novelle, jedem Roman zeigt sich dem Leser der ganze Schaffensprozess, wie Keller strich, ersetzte, umschrieb. Meist, weil ihm etwas selbst nicht passte, manchmal aber auch auf Wunsch des Verlegers. Manche dieser Prozesse lassen sich in der älteren Fränkel-Ausgabe und in Archiven allerdings ebenfalls nachvollziehen. Doch jetzt erschliesst sich die Gesamtentwicklung, jede Verästelung in einem einzigen Werk. Manuskripte, Schreib- und Notizbücher – alles ist zugänglich. Dem Leser wird klar: Es geht um die allmähliche Entstehung der Werke. «Dadurch werden die Arbeitsschritte aller Beteiligten, vom Schriftsteller bis zum Verleger, einsehbar,» sagt Projektleiter und Mitherausgeber Walter Morgenthaler.
Dass dieser Anspruch Platz braucht, ist wohl klar: Die Doppelbände eingerechnet, ist das Werk 36 Bände dick. Im Handschriftensaal der Zürcher Zentralbibliothek hat es für die Dreharbeiten der Sendung «Einstein» gerade noch knapp auf dem Klavierflügel Platz gehabt.
Kein gutbürgerlicher Schlingel
Ein rührendes Beispiel für den Versionenreichtum in Kellers Schaffen und die Überraschungen, welche die Neuausgabe bietet, findet sich in der Aufarbeitung des berühmten «Fähnlein der sieben Aufrechten». In der Version für Berthold Auerbachs Deutschen Volkskalender 1861 wehrt Heinrichs Angebetete seine Küsse ab und ruft empört: «Du Schlingel!» In Kellers Original hingegen geht es zur Sache, Zitat: «Die Jungfrau fühlte sich wehrlos und musste es erdulden, dass Karl ihr sieben oder acht heftige Küsse auf die Lippen drückte.» Der Herausgeber des gutbürgerlich-braven Volkskalenders hatte die ursprüngliche Version entschärft – gegen Kellers Willen!
Keller-Schätze im Archiv
Vier bis sechs Germanisten waren für das Nationalfondsprojekt über 20 Jahre lang beschäftigt. Der Kanton Zürich und private Geldgeber finanzierten mit, und für die Betreuung des ganzen Projekts wurde eigens eine Stiftung gegründet. Auch wenn der Computer der stete Begleiter der Herausgeber war, hatten sie doch einen gemeinsamen Treffpunkt, über all die Jahre hinweg: Den Handschriftensaal der Zürcher Zentralbibliothek. Er bietet Zugang zum gesamten Nachlass des Dichters. Gottfried Keller hatte ihn der Bibliothek vermacht.
Noch heute liegt er, sechs Stockwerke unter der Erde, im sogenannten Tresor der Zentralbibliothek. Dort liegen viele Schätze, die für die Schweiz von nationaler, historischer Bedeutung sind. Zum Beispiel die Handschriften Zwinglis und Lavaters oder Elias Canettis Nachlass. Es sind Kulturgüter, wie sie die Schweiz nur einmal hat und die im Falle einer Katastrophe als erste gerettet werden. Gottfried Kellers Nachlass gehört auch dazu. Auf mehreren Regalen ist er verteilt. Die gesamten Manuskripte, die Tagebücher und Briefe. Aber auch Kellers Lesebrille, die er schon früh benötigte, sein kleiner Spazierstock, die Pfeife. Das Geometrieheft des jungen Gottfried, sein Poesiealbum. Berührend auch der mottenfest verpackte Pelzmantel und die roten Stöckelschuhe seiner Schwester Regula. Für Historiker und Germanisten ein reiches Feld.
Das Werk an der Frankfurter Buchmesse
Walter Morgenthaler wird das Werk an der Frankfurter Buchmesse vorstellen. Verschiedene Bibliotheken haben es bereits bestellt. Zusammen mit der elektronischen Edition auf DVD und im Internet, die Zugang zu den Faksimiles bietet, soll das Werk die Grundlage für die weitere Gottfried-Keller-Forschung sein. Für die Herausgeber aber heisst es jetzt erst einmal etwas Abstand nehmen. Nicht von Gottfried Keller. Aber von der jahrelangen Detailversessenheit und Akribie, welche ihnen diese Edition, erschienen im Stroemfeld Verlag und im Verlag der Neuen Zürcher Zeitung, abverlangte.
Walter Morgenthaler, der Initiator des Projekts, meint voll Selbsterkenntnis: «Es gibt eine Strenge in unserem Beruf, die einen streng macht. Etwas zu lesen oder zu schreiben, das nicht bis ins letzte Detail stimmen muss und das man nicht auch noch nachweisen muss, das wünsche ich mir als Nächstes: Gottfried Keller einfach mal nur lesen!»