«Sieht das hier oben für Sie etwa aus wie ein Friedhof?»
Während er das fragt, zeigt der Leiter Bestattungswesen Marc Lüthi über die 54 Hektar Wald und Wiesen, die sich unter ihm ausbreiten. Er sitzt – am höchsten Punkt des Friedhofs Hörnli – hinter dem Steuer seines Elektromobils, mit dem er lautlos durch die Gräberreihen kurvt.
Man fühlt sich hier oben tatsächlich nicht wie auf einem Friedhof: viel freie Fläche, wenige Gräber. Doch das wissen zu Lüthis Leidwesen viel zu wenige Basler. Wüssten sie es, so sein Kalkül, dann würden sie hier ihre Freizeit häufiger verbringen und auch anders über ein eigenes Grab auf dem Hörnli denken. Dann würde der Friedhof vielleicht wieder attraktiver werden.
Das traditionelle Grab ist out
Doch momentan sieht es nicht danach aus: Er wird immer leerer. Lüthi erzählt gerne von einer Prognose, die 1965 getätigt worden war: «Im Jahr 2000 ist das Hörnli voll», warnte man damals. Weit gefehlt. Von den maximal 64‘000 Gräbern auf dem Friedhof sind zurzeit gerade einmal die Hälfte belegt – Tendenz sinkend.
Der Grund ist ein Wandel in der Gesellschaft. Wir leben in Patchwork-Familien, lassen uns nicht mehr von der Kirche vorschreiben, wie wir zu leben haben und sterben nicht mehr unbedingt dort, wo wir geboren wurden. Die traditionelle Bestattungsform – ein christliches Abschiedszeremoniell und ein Reihengrab, das gepflegt werden muss – spricht immer weniger Menschen an.
Stattdessen boomen Urnenbestattungen und Gemeinschaftsgräber, um die sich die vielleicht weit entfernt lebenden Kinder nicht kümmern müssen. Und immer häufiger bleibt die Asche erst gar nicht auf dem Friedhof: Die Angehörigen verstreuen sie an geliebten Orten – oder lassen sie gar zu Diamanten verarbeiten.
Buddhisten, Christen, Muslime – alle finden ihren Platz
«Das Angebot eines traditionellen Friedhofs entspricht oft nicht mehr dem, was heute nachgefragt wird», sagt Marc Lüthi. Dazu kommt, dass viele Menschen denken, Friedhöfe seien kirchlich, dabei sind sie in der Schweiz schon seit fast 200 Jahren säkulare Räume. Vor allem private Bestattungsunternehmen profitieren davon. «Aber was die Privaten können, können wir auch – und besser», sagt Lüthi. Er hat das Angebot angepasst und scheut sich auch nicht, es anzupreisen.
So bietet das Hörnli eine Kapelle für Buddhisten an, es gibt Waldkapellen im Freien und einen Waschraum für Muslime. Neuerdings können sich Interessierte unter einem Baum bestatten lassen («Wieso sollten die Menschen dafür in den Wald, wenn sie hier doch alles haben?») und seit drei Jahren werden einfache Wiesengräber angeboten, die individuell sind, aber keine grosse Pflege brauchen («Die laufen am besten»).
Auch Gräber für Muslime gehören zum neuen Angebot («Sie stellen für uns eine Chance in der Zukunft dar»). Weil Muslime sich erdbestatten lassen, brauchen sie auch ein Grab. Die Hörnli-Verantwortlichen halten deshalb ganze Flächen frei, auf denen früher noch nie ein Christ erdbestattet wurde. Bis jetzt stehen hier nur zwei Handvoll Gräber, weil sich viele Muslime lieber in ihrem Heimatland als auf dem Hörnli begraben lassen. Doch Lüthi rechnet damit, dass sich das mit der nächsten Generation ändern wird.
Es gibt Partnerschaftsgräber, mit denen er den Menschen eine Alternative zu den traditionellen Familiengräbern bieten will, die teuer sind und aufgrund der veränderten Familienstrukturen oft keinen Sinn mehr machen («Das sind Gräber in wunderschönem Ambiente. Wenn die Kinder sich nicht drum kümmern können, ist das auch gut»).
Kein Laptop auf dem Familiengrab
Pflegeleicht und individuell: Diesen Trend bestätigt auch Soziologe Thorsten Benkel von der Uni Passau, der mit seinem Kollegen Matthias Meitzler seit einigen Jahren zum Wandel in der Bestattungskultur forscht. «Früher hat man erwartet, dass Totenfürsorge betrieben wird: Grabpflege, Kerzen und so weiter. Aber das lässt durch die Individualisierung nach, weil die Traditionen nicht mehr so intensiv verfolgt werden».
Dieser Trend zur Individualisierung wurde in den 1990er-Jahren zuerst sichtbar, als auf den Friedhöfen plötzlich ganz neue Grabsteine auftauchten: «Es ging nicht mehr um christliche Symbolik und das Wiedersehen im Jenseits, sondern um den Rückblick aufs Leben», erklärt Forscher Benkel. «Wichtig ist heute das Lebenswerk, die Hobbies, das, worauf ein Mensch stolz ist». Soweit der Wissenschaftler.
Praktiker Lüthi versucht, diesen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden – schliesslich muss jeder Entwurf von seiner Abteilung abgesegnet werden. Grundsätzlich ist er für alles offen. Es gibt FCB-Gräber von eingefleischten Fans und auch eingravierte QR-Codes sind erlaubt; scannt man sie mit dem Smartphone ein, erhält man Informationen über die Verstorbene. Zu viel hingegen war der Entwurf für ein Familiengrab, auf dem ein mit Solarenergie betriebener Laptop installiert werden sollte. «Da habe ich nein gesagt. Ein Grabmal ist etwas Langfristiges – und der Laptop ist in fünf Jahren Schrott.»
Ich habe ihn im Herzen, nicht im Boden
Langfristig jedoch – das ist sich Lüthi sicher – werden Gräber weiter an Bedeutung verlieren. Forscher Benkel erklärt das unter anderem mit einer Veränderung in der Erinnerungskultur. Wo die Menschen früher ans Grab gegangen sind, um mit der verstorbenen Person zu kommunizieren, werden ganz andere Bezugspunkte wichtig. «Oft ist das Grab nur noch eine Option von vielen. Viele sagen: Ich brauche es Grab nicht, ich habe meine Erinnerung, die trage ich immer in mir», erklärt Benkel. «Die Vorstellung, an einen fremden Ort zu gehen, der noch dazu vielleicht weit entfernt liegt, und dort legitim zu trauern, löst sich eigentlich auf.»
Doch je weniger Gräber Marc Lüthi und sein Team pflegen, desto weniger Grabnutzungs- oder Grabpflege-Gebühren stehen ihnen zur Verfügung – und desto höher sind die Kosten, die von den Steuerzahlern finanziert werden müssen. Lüthi hat deswegen noch eine zweite Mission: «Wir müssen der Bevölkerung den Freizeitwert des Areals vermitteln. Wir müssen zeigen, dass es hier nicht tötelet».