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Die Hexe prüft durch die Gitterstäbe des Käfigs, wie dick der Finger von Hänsel ist.
Legende: Ist Hänsel schon genug gemästet, um ihn zu braten? Solch grausame Schilderungen belasten Kinder nicht nachhaltig. In Erinnerung bleibt das glückliche Ende des Märchens. Wikimedia/Philip Grot Johann

Einstein Online Märchenhaft: Wenn das Grausame in der Welt besiegt wird

Die Hexe lockt Kinder in ihr Haus und verspeist sie. Der Wolf frisst die Grossmutter mit Haut und Haaren. Die Königin will ihre Tochter vom Jäger töten lassen und zum Beweis Leber und Lunge sehen. Die Märchen der Brüder Grimm leben von Grausamkeiten aller Art. Trotzdem sind sie für Kinder wertvoll.

In Märchen wird misshandelt, gequält und gemordet. In «Hänsel und Gretel» setzen die Eltern ihre Kinder im Wald aus und überlassen sie kaltblütig der Gefahr, von wilden Tieren zerfleischt zu werden. Die Hexe will Hänsel im siedenden Wasser kochen und als Festmahl verspeisen. Und sie zwingt Gretel, ihr dabei zu helfen. Sie macht sie zur Sklavin.

Doch genau dieses Märchen sei besonders wertvoll für Kinder. «Es ist das klassische Angstüberwindungs-Märchen», sagt die Erzählforscherin Barbara Gobrecht. Sie befasst sich seit über 30 Jahren wissenschaftlich mit Märchen. «Die Hexe, die Dämonin, wird vernichtet, das ist eine unglaubliche Erleichterung für die Kinder.» Sie lernen: Das Böse kann überwunden werden.

Hänsel und Gretel – nicht Opfer, sondern Helden

Kinder sind auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit starken Gefühlen ausgesetzt: vielen Ängsten, Einsamkeit, Eifersucht, Neid. Sie leiden unter Mobbing und Streitereien auf dem Pausenplatz.

Märchen können da Hoffnung und Vertrauen geben. Denn hier werden die intensiven, unbewussten Gefühle aufgenommen statt ausgeklammert, und es wird eine Lösung aufgezeigt. «Meist schildert das Märchen den Weg der Helden hin zum Glück», sagt Barbara Gobrecht.

Deshalb sei es auch oft so, dass Kinder das gleiche Märchen immer und immer wieder hören wollten, bis die eigene Angst überwunden sei. Hänsel und Gretel kommen am Schluss schwer beladen mit Reichtümern wieder nach Hause. Das schafft Selbstvertrauen.

Rotkäppchen und der lüsterne Mann

Das beruhigende Happy End ist bei Märchen die Regel – zumindest in der Sammlung der Brüder Grimm. Das gilt auch für ihre Fassung des «Rotkäppchens», dem vielleicht berühmtesten aller Märchen, von dem es ungezählte Versionen gibt. «Da geht es ganz klar um sexuelle Ängste und die Gefahren für Mädchen», erklärt Erzählforscherin Gobrecht. Der Wolf ist das Symbol für den lüsternen Mann, der das Kind ins Bett locken will.

In einer ersten, französischen Fassung legt sich das Mädchen sogar zum Wolf, der sich als Grossmutter verkleidet hat, ins Bett und wird dann von ihm gefressen. Das war das Ende der Geschichte. Im Grimm’schen Märchen stellt sich Rotkäppchen «nur» neben das Bett. Es wird zwar auch verschlungen, aber später von einem Jäger aus dem Bauch des Wolfes befreit. Alles wird gut.

Die Schilderung von Grausamkeiten scheint Kinder nicht nachhaltig zu belasten. «Sie sehen den grösseren Zusammenhang, das glückliche Ende», urteilt Barbara Gobrecht. Auch habe die Gewalt nichts mit der Realität zu tun, sondern sei lediglich Teil einer unrealen Welt. Die Kinder sind sich bewusst: Es ist ja nur ein Märchen.

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