«Einstein»: Frau Brandes, auf meinem Schreibtisch, auf denen meiner Kollegen, stehen immer unnütze Dinge herum, warum?
Uta Brandes: Wir haben uns immer gefragt, warum Menschen sich das antun, all die Staubfänger auf einem vielleicht sowieso schon kleinen Schreibtisch zu sammeln. Ich sehe zwei Motive: Man braucht ein bisschen Heimat; es soll im Büro ein wenig es so sein wie Zuhause. Gleichzeitig ist es eine Ausstellung. Da stelle ich etwas so hin, dass die Kollegen mich so sehen, wie ich gesehen werden will.
Sieht ein Schreibtisch in China anders aus als in der Schweiz?
Oh ja! So bin ich überhaupt auf die Idee gekommen, Schreibtische zu vergleichen. Ich bin häufig für Vorträge in Asien an Partnerschulen, da ist mir aufgefallen, dass die Schreibtische in China oder Japan oft so voll sind, dass man den Laptop darauf kaum noch sieht.
Nippes auf dem Schreibtisch ist also international?
Gerade in Asien war das eklatant. Dort wird wirklich viel gesammelt. Ein chinesischer Professor sagte mir: «Wir haben alle immer zu wenig Platz gehabt in unserer Kindheit. Wir mussten in Schichten Schularbeiten machen, die Wohnungen sind klein und die Büros auch nicht gerade gross. Aber dann konnte ich plötzlich diese Sammlung, die ich schon immer haben wollte, in meinem ersten Büro aufstellen.» Dadurch wird es natürlich noch mehr ein Stückchen Heimat.
Sie waren mit Ihren Studenten auf allen fünf Kontinenten unterwegs, was unterscheidet die Schreibtische?
In den USA waren wir in New York, dort haben wir die neutralsten und kühlsten Büros vorgefunden. Absolut unpersönlich, auf den Schreibtischen steht fast nichts. Ein perfektes Abbild der Hire-and-fire-Kultur: Wenn irgendetwas nicht klappt, kann man am nächsten Tag schon auf der Strasse sitzen. In Ägypten wiederum fallen die vielen religiösen Bezüge auf, wie übrigens in Indien auch: Kleine Figürchen, die eine Gottheit darstellen, oder in Brasilien Engelchen und Jesusporträts.
Und in Europa?
Auch in Europa gibt es unterschiedliche Typen, aber ich war erstaunt, dass sich die Schreibtischtypen eher nach Branche ähneln. Oft beeinflussen sich Bürokollegen sogar gegenseitig. Da fängt einer an, viel zu sammeln, oder Sprüche am Laptop anzubringen und die anderen machen das dann auch. Das gibt eine fast familiäre Atmosphäre. So gibt es nicht nur eine Typologie nach Menschen – also der Ordnungsfanatiker, der Chaot, der Workaholic, sondern auch nach Unternehmenskulturen.
Der Schreibtisch eines Buchhalters im Finanzamt sieht also anders aus als der eines Bankers?
Banken sind absolut zurückhaltend, sehr seriös und gediegen. In Verwaltungen hingegen bleiben die Mitarbeiter oft ein Leben lang. Manche arbeiten 40 Jahre lang am selben Schreibtisch, die machen sich richtig kleine Biotope. Pflanzen werden gehegt und gepflegt, beliebt ist Hydrokultur, damit sie auch den Urlaub überstehen – da wird ein kleiner Balkon an den Schreibtisch angeschlossen!
Wenn wir schon bei den Vergleichen sind: Was ist mit Männern und Frauen?
Da wäre ich ja fast in Tränen ausgebrochen vor Frustration: Bei geschätzten 70 Prozent der Schreibtische in aller Welt kann man sofort sehen, ob eine Frau, oder ein Mann daran sitzt. Leider treffen die Stereotypen und Klischees, die wir über Männlichkeit und Weiblichkeit haben, genau zu.
Können Sie ein paar nennen?
Das fängt schon beim Farbklima an. Wir haben die Schreibtische auch von oben fotografiert, da waren die der Frauen meist mint, pastellfarben, oft auch pink. Bei Männern: dunkelblau, metallic, schwarz. Bei Frauen finden sich häufig Taschenspiegel, Handcremes oder andere Kosmetik und kleine Snacks. Bei den Männern liegt oft der Autoschlüssel lässig hingeworfen auf dem Schreibtisch – das wirkt wie zufällig, aber es kann kein Zufall sein, weil wir es oft gefunden haben. Natürlich macht man das nicht bei einem Smart, aber wenn man einen BMW 7er-Serie hat, dann schon. Fussballposter sind auch typisch, und Ansammlungen von Matchboxautos oder in Asien Plastic-Figuren aus irgendwelchen Comics. Frauen sammeln auch Figürchen, aber die sind eher aus Plüsch.
Der neue Trend heisst ja Bürolandschaft: flexible Arbeitsplätze, Orte für Besprechungen, zum Lesen, zum Ausruhen. Ein Schreibtisch für jeden ist da nicht mehr vorgesehen – verliert der Angestellte seine Seele?
Meine Prognose ist, dass die Menschen trotz zunehmender Online-Arbeit, Cloud und iPad im tiefsten Inneren ihrer Seele einen Schreibtisch haben wollen. Das muss kein Riesenmarmorschreibtisch mehr sein, aber man braucht ein eigenes Fleckchen. Wenn man keinen eigenen Schreibtisch haben kann, würde es vielleicht schon ausreichen, ein persönliches Ding immer bei sich zu haben. Wie bei kleinen Kindern der Bettzipfel oder der Teddybär, ohne den sie nicht einschlafen können.