«Menschen sind zueinander wie Wölfe», sagten die Römer in der Antike. Gemeint waren korrupte Politiker, verfressene Gutsbesitzer, räuberische Besatzer. Sie haben schlicht sich selber beschrieben. Allerdings schnappten sie sich einen Stellvertreter; der Wolf schien zu passen. Er war doch auch so eine haarige Bestie, die den (Blut)rausch suchte. Der Wolf ist ein zähes Tier, das sich über die Jahrtausende um den halben Globus ausbreitete, sich anpasste, fast jedem Klima trotzte. Wo und wann auch immer er sich zeigte, wurde zum Stock und zur Flinte gegriffen. In der Fabel genauso wie im richtigen Leben. Doch es regte sich Widerstand: «Er ist doch gar nicht böse!», schrie mancher Stadtbewohner. «Zusammenleben!» befahlen Tierschützer. Die Bauern bellten zurück: «Schnauze». Und das ist so bis heute.
Wer Recht hat? Verhaltensforscher sagen: Moralische Kategorien wie «gut» oder «böse» sind von Menschen für Menschen. Tiere können damit nichts anfangen, sie folgen ihrem Instinkt und dem Prinzip «Überleben». So gesehen sind sie ganz nah bei Shakespeare: Sein oder Nichtsein, das ist auch ihre Frage, erst recht, wenn der Nachwuchs hungrig kläfft. Aber seit Menschen Nutztiere weiden lassen und sich immer mehr Lebensraum nehmen, ist der Wolf zum sogenannten Nahrungs-Konkurrenten geworden. Zu Zeiten, wo es weder Subventionen, noch Entschädigungen gab, konnte sein Auftauchen den Ruin bedeuten: Eine arme Bauernfamilie findet ihr totes Schaf. Oder das gerissene Kalb. Die zerfetzten Hühner. Mit einem Schlag ist die wacklige Existenz zerstört.
Der Mythos vom bösen Wolf ist wissenschaftlich unhaltbar, nachvollziehbar aber doch. Stossend nur, dass er sich bis heute gehalten hat – trotz Zoos, publizierenden Forschern und aufgeklärten Eltern. Zwar tun einem gerissene Schafe noch heute leid und irgendwie auch ihre Besitzer. Aber böse ist Meister Isegrimm trotzdem nicht. Selbst wenn er in einer Herde richtig wütet, tut er das nicht aus Bosheit oder Gier. Er ist dann einfach überfordert. In der Wildnis hat er schliesslich nie erlebt, dass ihn ein Dutzend Rehe anglotzen und verängstigt warten, bis er jedes einzelne getötet hat. Schafe tun das, leider.