1956 hat Lys Assia im Teatro Kursaal in Lugano ihren grossen Auftritt. Die bereits bekannte Sängerin gibt ihr Lied «Refrain» zum Besten – vor einem in Abendgarderobe gekleideten, zurückhaltenden Publikum. Sie steht auf einer Bühne, die mit Blumen geschmückt ist, zu ihrer Rechten von einem fünfköpfigen Chor und einem Orchester begleitet.
Sieben Länder treten zum ersten ESC an, der damals noch «Concours Eurovision de la Chanson Européenne» heisst. Die internationale Jury entscheidet sich schliesslich für den Titel «Refrain» als Gewinnerlied. Die Schweiz gewinnt den ersten ESC. Und halb Europa schaut zu – oder besser: Hört zu. Denn Fernseher waren zu dieser Zeit noch nicht sonderlich weit verbreitet. Man konnte die Sendung im Radio hören oder schaute sie sich in Gemeinschaft vor einem Fernsehladen oder in einem Restaurant an.
Doch warum kamen europäische Fernsehmacher elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt auf die Idee, einen Liederwettbewerb auf die Beine zu stellen?
Transnationale Experimente
Die Grundlage dafür wurde bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen. Das Radio kam als neues Massenmedium auf. Da Radiowellen schon damals nicht an Grenzen Halt machten, wurde auf europäischer Ebene eine Frequenzverteilung für die verschiedenen Radioprogramme vereinbart.
Nach dem Ersten Weltkrieg schliesslich wurde dafür die «International Broadcasting Union» IBU gegründet. Und dort fand man, dass europäische Radiosendungen eine gute Idee wären. So wurden dann unter anderem die sogenannten «Concerts Européennes» lanciert, die in mehreren Ländern ausgestrahlt wurden.
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Bild 1 von 5. Die strahlende Siegerin: Die Schweizerin Lys Assia gewann den ersten ESC im Jahre 1956. Bildquelle: Archivio storico della Città di Lugano, Fondo Vincenzo Vicari.
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Bild 2 von 5. Dabei war doch alles nur ein Test. Bildquelle: Archivio storico della Città di Lugano, Fondo Vincenzo Vicari.
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Bild 3 von 5. Das Teatro in Lugano sollte zur Bühne transnationaler Unterhaltung werden. Bildquelle: Archivio storico della Città di Lugano, Fondo Vincenzo Vicari.
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Bild 4 von 5. Dafür war der ESC ein Versuch, die Bilder des Musikwettbewerbs durch halb Europa zu übertragen. Bildquelle: Archivio storico della Città di Lugano, Fondo Vincenzo Vicari.
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Bild 5 von 5. Aufgezeichnet wurde der erste ESC aus Kostengründen allerdings nicht. Die einzigen Bewegtbildaufnahmen stammen wohl aus dem Publikum, das live vor Ort war. Bildquelle: Archivio storico della Città di Lugano, Fondo Vincenzo Vicari.
Mit dem Zweiten Weltkrieg kam die Zusammenarbeit in der IBU dann faktisch zum Erliegen. Erst 1950 nahmen die europäischen Fernsehmacher unter Federführung der britischen BBC einen neuen Anlauf: Sie gründeten die «European Broadcasting Union» EBU, die bis heute den ESC organisiert. Die EBU wollte explizit europäische Fernsehprogramme veranstalten.
«1950 kann man eigentlich als die Geburtsstunde des europäischen Fernsehens bezeichnen», sagt Historiker Andreas Fickers von der Universität Luxemburg. «Die wichtigsten Akteure hier in Westeuropa waren ganz klar Grossbritannien und Frankreich. Es sind auch diese beiden Länder, die 1950 erste transnationale Experimente im Bereich des Fernsehens machen.» Damit wurde auch der Grundstein für die spätere «Eurovision» gelegt.
Geburtsstunde der Eurovision
1953 wurde die Krönung von Queen Elizabeth II. aus London in mehrere europäische Länder live übertragen, erzählt Andreas Fickers: «Es war von der EBU als ein Testfall angelegt, um zu schauen: Wie schaffen wir das wirklich, ein solches Event transnational zu übertragen?». Und der Test gelang.
Ein Jahr später wurde das Konzept unter dem Titel «Eurovision» fest etabliert – mit regelmässigen Sendungen in ganz Westeuropa. Die erste dazugehörige Übertragung war das Narzissenfest in Montreux. Bis heute deutlich bekannter ist allerdings das «Wunder von Bern» – der Final der Fussball-Weltmeisterschaft 1954, der via Eurovisions-Netzwerk verbreitet wurde. Der Sieg Deutschlands gegen Ungarn wurde direkt nach Deutschland und in andere Länder übertragen. Und dann gab es schliesslich eben den ersten ESC 1956 in Lugano.
Wer hat den ESC erfunden?
Doch wer steckte hinter der Idee des «Concours Eurovision de la Chanson Européenne»? Der damalige SRG-Direktor Marcel Bezençon war zeitgleich Programmdirektor der EBU. Historiker Andreas Fickers sagt, Bezençon sei bei der Lancierung des Liederwettbewerbs wohl ein wichtiger Akteur gewesen. Er würde ihn aber nicht als den Erfinder einer neuen Idee bezeichnen: «Weil eben diese Formen der transnationalen europäischen Rundfunkübertragung seit langem bekannt waren.»
Es sei einfach eine Übertragung dessen, was man kannte auf das neue Medium Fernsehen, und daran war Bezençon wesentlich beteiligt. Unter seiner Federführung startete 1953 schliesslich das Schweizer Fernsehen seinen Betrieb. Für Live-Übertragungen – und rechtzeitig für die Fussball-WM – schafften sich die Schweizer Fernsehmacher einen Übertragungswagen an. Den konnten sie zusammen mit der PTT direkt in der Fernseh-Pioniernation Grossbritannien bestellen.
Ein britischer Übertragungswagen fürs neue Schweizer Fernsehen
Den Übertragungswagen gibt es heute noch. Er steht im Depot des Museums für Kommunikation beim ehemaligen Landessender in Schwarzenburg. Juri Jacquemet ist Sammlungskurator beim Museum. Er hat herausgefunden, dass der Übertragungswagen 1956 auch vor dem Teatro Kursaal in Lugano stand, als im Mai 1956 der erste Eurovision-Liederwettbewerb über den Äther ging.
Doch mit dem Übertragungswagen war es nicht getan. Das Fernsehsignal musste ja irgendwie den Weg über die Alpen schaffen. Möglich war das dank des kurz vorher erstellten Richtstrahlnetzes, das eigentlich für die Telefonie gedacht war.
Die Ingenieure stellten fest, dass damit auch Fernsehen übertragen werden kann. Doch der Aufbau des Richtstrahlnetzes war aufwändig, sagt Jacquemet: «Da gingen Ingenieure und Techniker in Bergausrüstung beim Jungfraujoch die ideale Stelle suchen. Und sie testeten dann immer Richtung Monte Generoso und Richtung Chasseral, ob sie eine Verbindung hinkriegen». Diese Berge wurden bewusst gewählt, weil sie schon erschlossen waren, so Jacquemet.
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Bild 1 von 5. Damit es das Signal über die Alpen schafft, werden auf dem Ostgrat des Jungfraujochs Sendeanlagen installiert. Die Stromversorgung erfolgt über ein langes Kabel, das bis zum Bahnhof der Jungfraubahnen führt. Bildquelle: Museum für Kommunikation Bern, FFF_73237.
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Bild 2 von 5. Die Installation war echte Pionierarbeit: Ein Hornschlitten wird zum Transport des Richtstrahlmaterials eingesetzt – bei ordentlicher Neigung. Bildquelle: Museum für Kommunikation Bern, FFF_73237.
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Bild 3 von 5. Bereits 1950 wurde ein Antennennetz auf dem Monte Generoso gespannt – ein wahrer Drahtseilakt. Bildquelle: Museum für Kommunikation Bern, FFF_73072.
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Bild 4 von 5. Rechtzeitig für den ersten ESC nimmt die Richtstrahlstation Jungfraujoch den Betrieb auf – fast 4000 Meter über dem Meer. Bildquelle: Museum für Kommunikation Bern, FFF_19361, Foto: Kern Film Basel.
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Bild 5 von 5. 1970 ist das Haus auf dem Berg vor lauter Sendeanlagen kaum noch zu erkennen. Bildquelle: Museum für Kommunikation Bern, FFF_72682, Fotograf: Alfred Studer.
Das Schweizer Richtstrahlnetz fügte sich ins europäische Netz ein. So konnte das Signal aus dem Teatro Kursaal in Lugano über das Jungfraujoch zum Bantiger und Chasseral bis nach Frankreich und England übertragen werden – und der Eurovision Song Contest aus Lugano war live in grossen Teilen Westeuropas zu sehen.
Originale Fernsehbilder verschollen
Die originalen Fernsehbilder von damals sind nicht mehr erhalten, denn die Aufzeichnung von Fernsehsendungen war teuer und aufwändig. Doch weil der erste ESC auch am Radio ausgestrahlt und die Sendung aufgezeichnet wurde, ist immerhin noch die originale Tonspur vorhanden.
Die Videos, die man von Lys Assias Siegesauftritt im Internet findet, sind indes vermutlich von einem Zuschauer aus dem Publikum aufgezeichnet worden. Wie genau der erste Eurovision Song Contest in Lugano tatsächlich ausgesehen hat am Fernsehbildschirm, das wird wohl ein Rätsel bleiben.