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Tagebuch: Chamonix und das «Mer de Glace»
Aus Die Alpenreise vom 16.07.2018.
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Miss Jemimas Tagebuch Tag 1: Chamonix

Die dreiwöchige Alpenreise durch die Schweiz startet in Frankreich, am Tor zum Wallis.

Miss Jemimas Tagebuch: Dienstag, 30. Juni 1863

Die Zeit ist kostbar und so standen alle an diesem Morgen in Chamonix sehr, sehr früh auf – schliesslich stand unsere erste Bergtour auf dem Programm!

Zuerst mussten Wanderstöcke ausgesucht werden. Wir armen unschuldigen Reisenden wurden um zwei Franken erleichtert... der korrekte Preis wäre acht Pennies gewesen. Aber wir zahlten gerne, denn ohne dieses offizielle Abzeichen eines Berggängers wären wir uns wie blutige Anfänger vorgekommen.

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Legende:Chamonix 1861 und heute: Aus dem Hotel Royal wurde das CasinoSammlung Peter Blair, Chamonix / SRF

Mehrere Gruppen von Bergführern standen beim Hotel Schlange (das Schlangestehen wird von den Behörden konsequent durchgesetzt). Wir engagierten einen von ihnen, der den berühmten Namen Balmat trug. Seine Position verdankte er wohl eher seinem Namen als irgendwelchen persönlichen Glanzleistungen – auch in Chamonix sind Namen eben nicht nur Schall und Rauch.

Etwas aber konnte er gut: Rasch erkannte er die verborgenen Talente unserer Mitreisenden Miss Mary und versicherte ihr, sie sei «la plus jolie dame pour monter Mont Blanc».

So waren wir nun rundum brillant ausgestattet und konnten richtig starten. Unser Weg ging an der kleinen Kirche vorbei. Hier steht eine Gedenktafel für den Anwalt Albert Smith, den «Ägyptischen Hale» von Chamonix. Nach einer halben Meile Talweg bogen wir ab und bestiegen den Montenvers. Im Zickzack quälten wir uns den Berg hinauf. Er schien uns aber nicht so furchterregend steil wie La Flégère auf der anderen Seite, obwohl uns Balmat das Gegenteil versicherte.

Die Pfade wirkten wie mit braunem Garn im Vandyke-Stich auf einen grünen Hintergrund gestickt. Wenn Sie genau wie wir bis jetzt dachten, dass diese Berge in den Alpen kahl und leer seien, haben Sie sich getäuscht. Spärliche Tannenwälder wurden abgelöst von Metern über Metern grüner Bergwände, dicht an dicht bewachsen mit tiefrosa blühenden Alpenrosen. Wir fangen an zu pflücken, wir schmücken unsere Hüte und binden die Blumen, die links und rechts am Weg in wilden bunten Bändern wachsen, zu üppigen Sträussen.

Alte Foto
Legende: SRF / Thomas Cook Archiv, London

Die Bienen teilen dieses Eldorado mit einer Geissenherde im Tal. Die Geissen rupfen Kräuter; ihre Glöckchen sind eines der wenigen Geräusche, die sich hier in der Höhe bemerkbar machen.

Das Fleisch der Geissen ist weder zart noch wohlschmeckend, aber sie geben ‹süsse› Milch.

In dieser Gegend werden mehrere hundert Geissen gehalten. Ihr Fleisch ist weder zart noch wohlschmeckend, aber sie geben «süsse» Milch. Mittags ist sie erhältlich, denn unser Professor liess sich von der Liebe beflügeln und wollte seinen Teil zu der allgemeinen Harmonie beitragen: So jagte er nicht nur hinter einer Ziege her, sondern schaffte es auch, sie zu fangen und zu melken, sodass wir dieses Naturprodukt kosten und kritisch beurteilen konnten.

Und dann diese Aussicht! Voller Bewunderung bleiben wir stehen – vielleicht etwas zu oft für unseren von Longfellows Gedicht «Excelsior» inspirierten Bergführer, der lieber ein schnelleres Tempo anschlug.

Dann fällt unser Blick auf die Quelle, aus der die netten Damen unser Wasser geschöpft haben... Hätten wir das nicht selber tun können – ohne zu zahlen?

Je höher wir kommen, desto winziger wirkt Chamonix, der Bergbach Arveyron unten im Tal ist nur noch ein dünnes Band, die Bergflanken von Le Brévent und La Flégère weiten sich aus, während die Gletscher von Bossons und Bionassay meilenweite Eisfelder zu bieten haben, die sich in grosser Breite bis ins Tal erstrecken.

Diese Berge haben auf alle Reisenden dieselbe Wirkung: Man wird durstig! Auch uns ergeht es nicht anders, und als hinter einer Wegbiegung vier Fräuleins eine militärisch präzise halbe Drehung vollführen und uns mit glitzernden Wassergläsern in den Händen den Weg versperren, schnappen wir uns die Gläser und bezahlen. Dann fällt unser Blick auf die Quelle, aus der die netten Damen unser Wasser geschöpft haben... Hätten wir das nicht selber tun können – ohne zu zahlen? Hätten wir nicht Mister Toms Investition aus Chamonix – den kleinen Trinkschlauch – testen können?

Oh, diese Bergbäche! Auf der ganzen Reise haben wir uns über ihr Plätschern gefreut, immer haben wir gerne aus ihnen getrunken!

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«Die Alpenreise» Tag 1: Chamonix
aus WortSchatz vom 16.07.2018. Bild: colourbox
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Wir waren allerdings nicht die einzigen Touristen auf dem Montenvers. Ein rundlicher deutscher Herr und seine ebenso rundliche Frau überholten uns auf Maultieren; als sie bei uns angekommen waren, half unser Professor mit seinem natürlichen Charme Frau Meyer, den steilen Berg hinaufzureiten. Ausserdem unterhielt er sich die ganze Zeit mit ihr auf Deutsch. Ohne Wörterbuch ist das gar nicht so leicht!

Die Tochter der beiden Reisenden begleitete sie zu Fuss. Sie konnte aber mit den Maultieren nicht mithalten und blieb zurück, um uns kennenzulernen. Sie sprach uns in unserer Muttersprache an, mit einem leicht ausländischen Akzent. Ihr intelligentes, unbefangenes Wesen, ihre Offenheit und ihr bescheidenes Auftreten weckten unser Interesse und schon bald unterhielten wir uns lebhaft.

Alte Fotografie
Legende: srf / Thomas Cook Archiv, London

Wir erfuhren, dass Mathilde in Aachen wohnte, dass in ihrer Klasse auch ein paar Engländerinnen waren und dass sie daher recht gut Englisch konnte. Sie wunderte sich sehr, dass unsere Eltern uns in so jungem Alter so weit reisen liessen, ganz ohne Lehrer oder Erzieher. In Deutschland wären solche Freiheiten undenkbar, besonders für ein Einzelkind wie Mathilde, die nie ausser Sichtweite ihrer Eltern geraten durfte.

Als wir bei dem kleinen Hospiz ankommen, blicken wir auf 1921 Meter Aufstieg zurück und freuen uns über die Aussicht auf das Mer de Glace rechts neben uns. Schroffes Eis, soweit das Auge reicht. Gegenüber erheben sich einige der höchsten Bergspitzen der Gegend; die Aussicht hier zählt zu den berühmtesten der Welt: Aiguille du Dru, Aiguille du Moine und Aiguille Verte ragen 2000 Meter über dem Gletscher und über unserem Standort Montenvers in die Wolken. Es macht keinen Sinn, das Mer de Glace an sich zu beschreiben, da sich die Wirklichkeit nicht mit Worten wiedergeben lässt.

Die sprichwörtlichen Gefahren der Alpen erwiesen sich auf den bekannten Routen immer wieder als reine Einbildungen. Wir hörten nicht auf, uns darüber zu wundern.

Wir betraten die Hütte und stärkten uns mit Brot, Käse und Limonade mit Sodawasser. Fast hätten wir die zum Verkauf ausgestellten Schnitzereien gekauft, aber wir wollten nicht riskieren, sie beim Abstieg zu zerschlagen. Mathilde hätte gerne mit uns den Gletscher überquert, aber ihre Eltern wollten ihren grössten Schatz nicht aus den Augen lassen. So trennten wir uns von unserer neuen Bekanntschaft aus Montenvers, wir sollten sie aber bald wiedersehen.

Die sprichwörtlichen Gefahren der Alpen erwiesen sich auf den bekannten Routen immer wieder als reine Einbildungen. Wir hörten nicht auf, uns darüber zu wundern. Der Abstieg von Montenvers zum Gletscher aber machte einige der Damen zunächst etwas nervös, da sie solche Höhen noch nicht gewohnt waren. Umso mehr freuten wir uns über die starken Arme unseres neuen Clubmitglieds!

Man erklärt uns, dass alle Männer, Frauen und Kinder aus der Gegend zum Alpaufzug eingespannt werden. Für sie ist es ein Festtag, wenn sie die armen Tiere mit Liedern und Zurufen über den Gletscher treiben können.

Wie seltsam, wie äusserst unpassend fühlt es sich an, wenn man an einem heissen Sommertag wie wir das Eis unter den Füssen bröckeln hört und in gähnende Gletscherspalten blickt, die 25 bis 30 Meter in die blaue, eisige Tiefe reichen. Ganz vorsichtig folgen wir dem Weg, den der Bergführer gepfadet hat. Er führt quer über zahllose gefährliche Stellen.

Im Ganzen verbringen wir ungefähr eine halbe Stunde auf der glatten, harten Gletscheroberfläche. Wie es die Herde aus Chamonix jeden Juli auf die andere Seite zur Sommeralp schafft, ist ein wahres Wunder! Man erklärt uns, dass alle Männer, Frauen und Kinder aus der Gegend zum Alpaufzug eingespannt werden. Für sie ist es ein Festtag, wenn sie die armen Tiere mit Liedern und Zurufen über den Gletscher treiben können.

Alter Stich
Legende: Thomas Cook Archiv, London

Sogar inmitten der Felsen sammelten wir Wildblumen und auch auf dem Weg zum Mauvais Pas – einem schmalen Pfad oder noch eher einem Felsvorsprung, der aus einer senkrechten Felswand herausgeschlagen wurde. Auf einem Holzbrett überqueren wir den Bach unterhalb eines schäumenden Wasserfalls. Es scheint, als sei er von Moses selbst mit dem Stab in den Felsen gehauen worden.

120 Meter unter uns lag eine steinige Moräne und wir mussten sehr aufpassen, um nicht auf ihr zu landen.

Genau hier setzte auch der Regen ein. Das störte uns aber kaum. Über einen banalen Regenschauer regen wir uns schon lange nicht mehr auf. Ausserdem nahm uns der Mauvais Pas voll und ganz in Anspruch: Wir schlichen dem glitschigen Felsvorsprung entlang, nur gesichert von einem Seil, das mit eisernen Krampen am Felsen befestigt war.

120 Meter unter uns lag eine steinige Moräne und wir mussten sehr aufpassen, um nicht auf ihr zu landen. Beim «Chapeau», einem kleinen Bergdorf im Schutz des Felsüberhangs, der dem Namen nach wie ein Hut aussieht, waren wir endlich ausser Gefahr. Von dort bis ins Tal führte unser Weg dem Gletscher entlang. Hier wölbt er sich über eine unsichtbare Felsstufe und ist in tausend groteske Stücke zersplittert. Mit etwas Phantasie kann man in ihnen unzählige Objekte entdecken.

Wir erkannten das gezackte Rückgrat eines vorsintflutlichen Monsters, das einen Schotten im Kilt aufforderte, einen Feind weiter unten anzugreifen.

Eine Beschreibung vergleicht ihn mit einem Strom von Eishexen und Kobolden mit ihren Kindern, die mit Sack und Pack auf dem Weg in die unterste Hölle sind, von Mönchen ohne Kopf und von Riesen. Wir erkannten das gezackte Rückgrat eines vorsintflutlichen Monsters, das einen Schotten im Kilt aufforderte, einen Feind weiter unten anzugreifen.

Da sass auch der berühmte Scheidungsrichter Sir Cresswell Cresswell mit Anwälten in ihren formellen Perücken in einem vollen Gerichtssaal und eisig weissen Klägern und Beklagten. Ausserdem waren Klosterbrüder in Mönchsroben und Kapuzen zu sehen, eine Madonna mit Kind und geisterhafte Gestalten, wie sie der Prediger John Bunyan in seinem Tal des Todes ansiedeln würde.

Für Kirchtürme, Pyramiden, Sphinxe, Obelisken und andere Marmordenkmäler lässt sich in diesem Eismeer mehr als ein Modell finden. Noch aber haben wir eine Stunde Weg bis zum Städtchen Chamonix im Tal vor uns, wir müssen das Ende der Gletscherzunge und das Dorf Les Tines passieren. Daher verlassen wir unseren «belebten» Gletscher und kämpfen mit dem Regen, der unbedingt testen will, was unsere Gummi-Regenmäntel aushalten.

Der Regen prasselte inzwischen heftig, sodass wir uns in einer Hütte unterstellten und dabei einiges über das Leben in einem Chalet und die Armut der Bewohner lernten.

Wir überholen die Kuhherde auf dem Weg zum Stall. Mit ihren Glocken liefern sie die passende Musik zur ländlichen Gegend. Dann werden wir von einer Reihe Fussgänger überholt und erkennen unseren geschwätzigen Mitreisenden bei der Kanalüberquerung wieder. Der Regen prasselte inzwischen heftig, sodass wir uns in einer Hütte unterstellten und dabei einiges über das Leben in einem Chalet und die Armut der Bewohner lernten.

Die Hausherrin war sehr gastfreundlich und legte viel Holz im Herd nach, um unsere nassen Füsse und Mäntel zu trocken. Dabei stellte sie uns eine Frage nach der anderen und amüsierte sich sehr über unsere Antworten. Wenn dieser wahrheitsgemässe Bericht unser Gespräch in allen Details wiedergeben würde, dürfte mehr als ein treuer Freund ernsthaft kompromittiert werden.

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Chamonix: Das Bergsteigerdorf am Mont Blanc
aus Sinerzyt vom 16.07.2018. Bild: wikipedia
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Als wir endlich im Hotel waren und uns für das Abendessen umziehen sollten, mussten wir laut lachen, denn die Kleider, die wir vor dem Regen gerettet hatten, sahen recht sonderbar aus: Miss Mary spielte eine Art Mönch in Mantel und Gürtel. Miss Eliza war eine feine Dame, die schon bessere Zeiten gesehen hatte und an der die Kleider nur noch herunterhingen, und unsere Künstlerin trug anstatt eines Reifrocks einen graziös drapierten Stoff, während Miss Sarah die ganze Gesellschaft in ordentlicher moderner Kleidung repräsentieren musste, da ihr Regenmantel sie beschützt hatte.

Der Regen hielt immer noch an und fesselte uns ans Haus. Wir konnten weder die Kirche besichtigen, noch die Cascade du Dard noch die Läden in Chamonix, die uns auf der anderen Flussseite spöttisch-lockend anlachten. Daher unternahmen wir einen löblichen Versuch und schrieben die ersten Seiten unseres Reiseberichts. Sie sollten auch der letzte Eintrag bleiben...

Als man uns ankündigte, dass wir am nächsten Morgen um vier Uhr früh aufstehen müssten, zogen wir uns zurück und liessen uns vom Rauschen des Flusses Arve unter unserem Balkon in den Schlaf singen.

Die Probleme des Hotellebens, die Preisverhandlungen mit den Bergführern und Maultiervermietern und die ganze Planung für den nächsten Tag beschäftigten und beunruhigten die männlichen Clubmitglieder noch einige Zeit.

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