«Olympia ist wie ein Raumschiff, das landet, zwei Wochen Party macht und dann wieder abrauscht.» So beschrieb ein deutscher Radio-Kollege die Spiele von Rio. Ich bin auch einer dieser Marsianer. Benebelt von Sinneswahrnehmungen aller Art; von mitgefühlten Emotionen in alltäglichen und exotischen Sportarten über den Gestank der ungeklärten Abwasser-Kanäle bis zum abendlichen Feierabend-Caipirinha.
Die Anwohner der Favela gleich ausserhalb des Olympia-Stadions boten eifrig ihre Plastik-Stühle an.
Rio hat sein Bestes gegeben. Einen Olympia-Park nach Barra de Tijuca geklotzt, der bald schon zum Tummelplatz der hiesigen Oberschicht umgebaut wird. Strassenschneisen ins Buschwerk geschlagen, um das Militär-Resort Deodoro näher an die Stadt Rio anzubinden.
Das Olympia-Stadion erhielt einen glänzend weissen Umbau, in krassem Kontrast zur Umgebung, denn es liegt mitten in einer ärmlichen Favela. Weisse Elefanten nennt man Prestige-Objekte, die nach Ende der Spiele ungenutzt bleiben und mangels Unterhalt dem schleichenden Zerfall überlässt.
Die Cariocas erdulden die Spiele
Was muss das die Cariocas, die Einwohner Rio de Janeiros, genervt haben, wenn auf den chronisch überlasteten Autobahnen von drei Spuren eine für den olympischen Verkehr reserviert blieb und die Staus im Arbeitsverkehr noch länger wurden. Sie liessen sich nichts anmerken, im Gegenteil.
Die Anwohner der Favela gleich ausserhalb des Olympia-Stadions boten eifrig ihre Plastik-Stühle an, wenn sich der Leichtathletik-Journalistentross nach der Nacht-Session ein Häppchen vom Spiess-Grill gönnte und auf den Bus wartete.
Was ist hier kriminell?
Ja, es ist gefährlich, sich zu tief ins Gässchengewirr einer Favela zu wagen, sobald keine Polizei-Eskorte den Weg sichert. Ja, es kam zu Überfällen auf die «Olympische Familie», die sich meist mit gezücktem Smartphone von Google Maps im kürzesten Weg durchs Elend lotsen liess.
Doch es bleibt in Erinnerung, was nur Olympische Spiele alle vier Jahre schaffen.
Aber in dieser «Familie» gibt es «Vorbilder», die Überfälle vortäuschen, um von eigenen Vandalenakten abzulenken; Funktionäre, die man für korrupt genug hält, um sie in Rio ins Gefängnis zu stecken; politische oder religiöse Erzfeinde, die sich im sportlichen Wettkampf die Hand nicht reichen können. Und eine permanente Diskussion darüber, wer eigentlich sauber in den Wettkampf steigt.
Doch es bleibt in Erinnerung, was nur Olympische Spiele schaffen: Der Randsportler, der sich schämt, weil er nach vier Jahren materieller Entbehrung im entscheidenden Moment die Erwartungen nicht erfüllt hat. Der abtretende Star, der vor Freude weint, weil ihm im letzten Rennen noch ein grosser Coup gelungen ist. Das Drama, das ein Siegtor in letzter Sekunde nach scheinbar aussichtsloser Aufholjagd schreibt. Die Leistung, die hinter jeder noch so absurden olympischen Sportart steckt.
Verstörendes Rio
Die Spiele von Rio zeigten Sport, wie er heute ist: Nie waren die Kontraste von Arenen und Umgebung frappanter, die Bilder von Sportunfällen brutaler, die Erfolge kurzlebiger. Rio bot eine verstörende olympische Vielfalt. Was mich persönlich am meisten verstört: Ich bin – wahrscheinlich nicht als Einziger – an der Eröffnungsfeier beim Athleten-Einmarsch eingeschlafen; zum neuen Hafen habe ich es auf der Hatz von einer Wettkampf-Stätte zur anderen nicht geschafft. Also habe ich das olympische Feuer hier nie gesehen.
Sendebezug: Laufende Olympia-Berichterstattung