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Blick in die Spitäler Pflegende am Anschlag: Es fehlt an Menschen, nicht an Betten

Überstunden, Unterbesetzung, Überlastung. So erlebt das Pflegepersonal die zweite Corona-Welle.

Sie sind die Helden der Coronakrise: Die Frauen und Männer, die sich in den Schweizer Spitälern und Heimen rund um die Uhr um Kranke, Schwerkranke, Sterbende und Genesende kümmern.

Dieser unermüdliche Einsatz hat dem Pflegepersonal den Respekt der Bevölkerung eingebracht, im Frühling ausgedrückt durch landesweiten Applaus und Lobeshymnen nicht nur in den sozialen Medien.

Wenige Monate später zeigt sich: Der Respekt der Bevölkerung ist nach wie vor da. Substanzielle Verbesserungen der Arbeitsbedingungen lassen aber weiter auf sich warten – und die aktuelle Coronasituation macht die Lage immer prekärer. Vor allem in der Westschweiz.

Die zweite Corona-Welle trifft die Romandie besonders hart. Die Gründe dafür liegen weiterhin im Dunkeln. Offensichtlich sind jedoch die Konsequenzen für das Gesundheitswesen: Das Pflegepersonal ist am Anschlag, speziell auf den Intensivstationen. Manche Westschweizer Spitäler kamen in den letzten Wochen nahe an ihre Kapazitätsgrenze.

Am Kantonsspital Freiburg beispielsweise war die Intensivstation bereits Anfangs November ausgelastet. Chefarzt Govind Sridahran warnte damals: «Derzeit könnten wir die Anzahl der Intensivbetten nicht erhöhen, wie wir es im Frühjahr gemacht haben. Aus Mangel an Personal, obwohl das gesamte Material vorhanden ist.»

«Man hätte früher starke Massnahmen ergreifen müssen, die uns erlaubt hätten, uns besser vorzubereiten», konstatiert zudem Intensivpflegefachfrau Valérie Miauton. Das Pflegepersonal tue alles in seiner Macht Stehende, aber die Lage sei trotzdem sehr angespannt.

Aus der ersten Welle seien keine Lehren gezogen worden, so der Vorwurf. Entsprechend beunruhigt ist man beim waadtländischen Pflegeberufsverband. Co-Präsidentin und Intensivpflegefachfrau Carmen Cuche bringt die Frustration auf den Punkt: «Wir erwarteten eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, mehr Personal. Nichts ist passiert. Es stimmt deshalb schon: Man ist müde, frustriert aber auch wütend. Die Leute an der Front sind zunehmend demotiviert.»

Wie stark sich die Situation in der Westschweiz von jener in der Deutschschweiz unterscheidet, zeigt ein Blick auf die aktuellen Zahlen. Auch wenn sie gerade wieder sinken, belegen die Kantone jenseits des Röstigrabens nach wie vor die unrühmlichen Spitzenplätze bei den Fallzahlen und Hospitalisierungen.

Was ein paar Kilometer Richtung Deutschschweiz ausmachen, zeigt die Situation im Spitalzentrum Biel. Hier ist die Stimmung deutlich weniger angespannt.

Anfangs Kalenderwoche 47 sind 45 der rund 200 stationären Betten von Covid-Patienten belegt. Doppelt so viele wie beim Höhepunkt der ersten Welle im Frühling, und trotzdem arbeitet das Personal im normalen Schichtbetrieb.

«Die Belastung ist momentan im Rahmen des Tragbaren», meint Pflegefachfrau Julia Walser. Aber: «Es ist streng und stellt hohe Ansprüche nicht nur an das Pflegeteam, sondern an alle Player im Spital.»

So ist auch die Spitalleitung gefragt. Um freie Kapazitäten zu schaffen – auch beim Personal – hat man in Biel die Wahleingriffe bereits vor zwei Wochen zurückgefahren. Und man ist auf der Suche nach zusätzlichem Personal.

«Wir rekrutieren laufend Leute zur Unterstützung und Entlastung unserer Stammteams, denn es ist uns wichtig, dass unser Personal längerfristig gesund bleibt», erklärt Claudia Lüthi, die Pflegedirektorin des Spitalzentrums Biel. «Ich denke, wir brauchen noch einen langen Atem.»

Weiter westlich ist die Luft bereits reichlich dünn. Und mehr Leute in der Pflege helfen da nur bedingt.

So hat man beispielsweise auch am Universitätsspital Genf zusätzliches Personal eingestellt. Die erhoffte Entlastung auf der Intensivstation blieb aber erst mal aus, weil den neuen Mitarbeitenden die spezifische Erfahrung in diesem speziellen Umfeld fehlt. «Für die Schulung stehen bloss 15 Tage zur Verfügung, dabei braucht es Monate, bis jemand Erfahrung hat», seufzt Intensivpfleger Yoan Guilloux. «Das ist sehr anstrengend für uns. Wir haben ein Gefühl der beruflichen Erschöpfung.»

Die zweite Welle fordert dem Pflegepersonal viel ab – manche fürchten: zu viel. In den Worten von ASI-Co-Präsidentin Carmen Cuche: «Es steht zu befürchten, dass die Covid-Krise viele Pflegefachleute entmutigt und sie ihren Beruf deshalb vorzeitig an den Nagel hängen.»

«46 Prozent geben den Pflegeberuf wieder auf»

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Im «Puls»-Studio sprach Moderatorin Daniela Lager mit Yvonne Ribi, der Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK - ASI

SRF: Frau Ribi, in der Westschweiz wird ein düsteres Bild gezeichnet. Laufen Ihnen tatsächlich die Leute davon?

Yvonne Ribi: Während der Pandemie haben wir keine Möglichkeit, das zu evaluieren. Aber Fakt ist, dass 46 Prozent der ausgebildeten Pflegefachpersonen aus dem Beruf aussteigen. Das ist natürlich sehr beunruhigend und zeigt sich auch in sehr vielen offenen Stellen. Dabei wäre es gerade in einer Pandemie wichtig, dass diese Stellen besetzt sind, dass die Arbeitsbedingungen gut sind, damit die Leute im Beruf bleiben können.

Trotz der hohen Fallzahlen funktioniert unser Gesundheitssystem noch. Anders als im Ausland werden zum Beispiel keine Patienten im Auto auf dem Spital-Parkplatz behandelt.

Es ist tatsächlich so, dass wir im Moment die pflegerische Versorgung an vielen Orten aufrechterhalten können. Es ist aber auch so, dass die Pandemie jetzt überall angekommen ist. Wir sind froh, dass wir die Leute nicht auf dem Parkplatz behandeln müssen. Es zeigt auch, dass die Massnahmen, die man auch bei den Institutionen ergreift, wirken. Aber es ist zentral, dass der Dreischichtbetrieb eingehalten werden kann, damit das Personal genug Ruhezeiten hat. Denn die zweite Welle dieser Pandemie scheint uns noch länger zu beschäftigen.

Wäre es nicht sinnvoll, Personal aus weniger belasteten Spitälern in solche zu verschieben, die am Anschlag sind?

Das wird zum Teil gemacht. Da sprechen sich die Spitäler untereinander ab. Aber Sie haben schon recht: Ein regionaler oder überregionaler Pool wäre ganz wichtig. Denn es kann ja nicht sein, dass in der einen Institution Leute in die Kurzarbeit müssen, während man andernorts am Anschlag ist.

Angesichts dieser Unterschiede: Weshalb fordern sie jetzt bessere Arbeitsbedingungen für alle?

Das ist ganz wichtig, weil die Pflegenden unter einem enormen Druck stehen – auch ausserhalb der Pandemie. Während der Pandemie ist es zentral, dass die Leute sich für die pflegerische Versorgung gesund halten können. Die Flexibilität und die in allen Gesundheitsinstitutionen zu erledigende Arbeit fordern zusätzliches Investment und zusätzliches Engagement der Pflegenden. Wir finden, dass das honoriert werden soll.

Aktuell hört man so viel über Missstände. Warum soll ein junger Mensch da überhaupt noch Lust haben, einen Gesundheitsberuf zu lernen?

Ich kann Ihnen sagen: Der Pflegeberuf ist eigentlich der schönste Beruf, den es gibt! Man ist so nahe bei den Menschen, man erlebt so viel mit Menschen in Extremsituationen. Aber die Rahmenbedingungen, in denen wir arbeiten, sind wahnsinnig herausfordernd. Da gilt es jetzt eben – und das ist die Forderung an die Politik – zu reagieren und die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass man ein Leben lang gesund im Pflegberuf bleiben kann.

Puls, 16.11.2020, 21:05 Uhr

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