Zurück ins Bett. Am helllichten Tag.
Obwohl Aline Fassbind letzten November nur mild an Covid erkrankte, leidet sie heute noch unter den Nachwirkungen. Kleinste körperlich und geistige Aktivitäten erschöpfen sie.
«Ein Spaziergang ist für mich schon eine grosse Herausforderung», erzählt die 27-Jährige. «An guten Tagen komme ich ein paar hundert Meter weit. Aber dazu noch reden oder sich gar auf ein Gespräch mit einer Freundin einlassen, liegt nicht drin.» So etwas hat sie schon seit Monaten nicht mehr getan.
Die junge Lehrerin ist derzeit zu 100 Prozent krankgeschrieben. Sich längere Zeit auf etwas zu konzentrieren, fällt ihr schwer. Kopfweh und starke Gelenkschmerzen sind seit dem Beginn der Covid-Erkrankung ständige Begleiter im Alltag.
«Die Symptome sind unterschiedlich, kommen und gehen.» Und was Aline Fassbind besonders zu schaffen macht: «Manchmal habe ich wie jetzt das Gefühl, auf einem guten Weg zu sein. Ich mache Fortschritte, es kommt besser – und bämm! Plötzlich sind die Symptome wieder da.»
Seit einem Jahr nicht mehr auf dem Fahrrad
Welche Einschränkungen nicht enden wollende Covid-Symptome mit sich bringen, weiss auch Chantal Britt. Sie erkrankte im März 2020 an Covid-19 und konnte zwar bald wieder arbeiten. Herz und Lunge der passionierten Marathonläuferin haben sich aber bis heute nicht wieder richtig erholt.
«Ich kriege gar nicht richtig Luft. Geht es bergauf, gerate ich ausser Atem, und mein Puls geht viel zu weit hoch.» Eigentlich war sie sich gewohnt, einfach schnell aufs Fahrrad hüpfen zu können, «aber jetzt bin ich schon ein Jahr nicht mehr Velo gefahren».
Lange Zeit fühlte sich Chantal Britt mit ihren Problemen allein gelassen. Deshalb gründete sie mit einer anderen Betroffenen zusammen die Selbthilfegruppe Long Covid Schweiz .
Die Mitgliederzahl der zugehörigen Facebook-Gruppe steigt stetig. «Wir haben viele Lehrer und Betroffenen aus dem Gesundheitswesen. Eltern mit sieben-, achtjährigen Kindern, die an Long Covid leiden. Jugendlich in der Ausbildung, die eine Lehre oder ein Studium abbrechen müssen – die ganze Bandbreite.»
Die Plattform ist einer der wenigen Orte, wo sie sich austauschen können. Einander Tipps geben und sich informieren. Denn viele Betroffene wissen nicht, an wen sie sich wenden können.
«Man wird nicht ernst genommen. Das ist immer noch der Fall», hält Chantal Britt fest. «Es hat zwar ein wenig gebessert, weil viele Hausärzte erkannt haben, dass es da ein Problem gibt bei ihren Patienten, die sie ja relativ gut kennen.» Aber es fehle weiterhin an offiziellen Informationen seitens der Regierung, Verwaltung oder Versicherungen. «Solange das nicht jemand benannt und definiert hat, existiert Long Covid nicht. Und dann bleibt es beim diffusen ‹Reiss dich doch etwas zusammen. Ich bin ja auch ab und zu müde.›, was man so als Reaktion bekommt.»
Das Problem: Anlaufstellen gibt es erst wenige. Seit zwei Monaten bietet das Universtitätsspital Genf eine interdisziplinäre Long-Covid-Sprechstunde an. Denn der Austausch zwischen Betroffenen und Ärzten ist für beide Seiten wichtig.
«Für uns ist es wichtig, dass wir den Patienten gut zuhören, um zu verstehen unter welchen Symtomen sie leiden», erklärt Internistin Mayssam Nehme. «Dann versuchen wir mit verschiedenen Tests, die Auswirkungen der Erkrankung besser zu verstehen, um sie dann zu behandeln.»
Betroffene wie die 40-jährige Sophie werden hier ernst genommen. Sie leidet seit ihrer Coviderkrankung unter Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisverlust und Kopfschmerzen. «Es ist beruhigend zu wissen, dass auch andere unter dem Gleichen leiden», betont sie. «Vieles, was ich der Ärztin erzählte, hat sie bereits von anderen Patienten gehört. Sie konnte mir dann auch sagen, dass es sich tatsächlich um Long Covid handelt, weil ich selbst ja unsicher war.»
Noch gibt es keine etablierten Therapien. So versucht man in Genf je nach Symptom beispielsweise mit Medikamenten, Physiotherapie oder auch Akupunktur die Beschwerden zu lindern.
Mayssan Nehme kann den Betroffenen noch keine Heilung versprechen. «Aber nur schon die Symptome zu behandeln, zuzuhören und die Patienten im Umgang mit den Symptomen im Alltag zu schulen, ist wichtig.»
Genfer Studie zeigt Dimension
Dass solche Angebote dringend nötig sind, zeigt auch eine aktuelle Studie der Genfer. Idris Guessous und sein Team verfolgten bei 432 Patienten den Verlauf der Symptome. Die neuesten Zahlen werden demnächst veröffentlicht.
Ihre Erkenntnis: Jeder Vierte leidet auch sieben Monate nach einer meist milden Covid-Erkrankung noch immer unter mindestens einem Symptom. Insgesamt 26 unterschiedliche Beschwerden wurden erfasst. Am häufigsten: chronische Müdigkeit, Geschmacksverlust und Atemnot.
«Es scheint drei Faktoren zu geben, die das Risiko für Long Covid erhöhen», fasst Idris Guessous zusammen.
Zum einen scheinen das Geschlecht und das Alter eine Rolle zu spielen: «Sowohl Frauen als auch Menschen über 50 Jahre korrelieren in unseren Daten mit einem um 30 Prozent höheren Risiko für Long Covid.» Und dann scheint auch die Anzahl Symptome während der aktuen Erkrankung einen Einfluss zu haben: «Wer zwei oder mehr Symptome hatte, hat ein bis zu sechsmal höheres Risiko, auch Long-Covid-Symptome zu entwickeln.»
Das Problem Long Covid wird derzeit vor allem in Zahlen erfasst. Die komplexen Prozesse, die zu den Symptomen führen, versteht man immer noch nicht.
«Wenn wir genau so viel Energie einsetzen, um Long Covid zu verstehen, wie wir für die Entwicklung der Impfungen aufgewendet haben, dann werden wir Lösungen für die Patienten finden», ist Idris Guessous überzeugt. «Doch dafür muss sich erst die Erkenntnis durchsetzen, dass die Behandlung von Long Covid genau so wichtig ist wie die Behandlung der akuten Covid-Erkrankung.»
Keine schnelle Hilfe für Betroffene
In Genf will man in der Sprechstunde weitere Daten sammeln, um zu sehen, welche Therapien erfolgsversprechend sind.
Doch noch gibt es für die Betroffenen wie Aline Fassbind keine schnelle Hilfe. Unterstützung braucht sie deshalb auch von ihrer Familie. Den Alltag kann sie nicht mehr alleine bewältigen und übernachtet deshalb nun wieder bei ihren Eltern.
Ihr Vater holt sie ab. Kein einfacher Moment. «Zu sehen, wie sich ein derart vitaler, junger Mensch derart verändert... Wie das nicht mehr unsere Tochter ist... Das tut im Herzen weh.»
Auch die 27-Jährige kämpft beim Blick in die Zukunft um Fassung. «Werde ich wieder zu mir selbst und meinem Alltag zurückfinden? Es gibt da keine Sicherheit. Ich muss Geduld haben und hoffen, dass es besser wird.»
Doch die Rückschläge holen sie immer wieder ein. «Das macht Angst.»