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Ständiger Wettlauf Corona-Mutationen: Werden die Karten laufend neu gemischt?

Neue Virus-Versionen verbreiten sich rasant. Wie es zu solchen Mutationen kommt und was sie für die Zukunft bedeuten.

Als ob das normale Coronavirus nicht schon reichen würde: Seit Dezember zirkuliert in der Schweiz auch eine mutierte Version, die Grossbritannien zur Weihnachtszeit einen steilen Anstieg der Infektionszahlen bescherte, das Gesundheitswesen schlagartig überlastete und die Insel schliesslich in einen erneuten Shutdown trieb.

Verschärfte Massnahmen gelten seit Montag auch hierzulande. Mit Ladenschliessungen und Kontaktbeschränkungen will man der neuen Situation Herr werden und die neue Virusvariante frühzeitig bremsen.

«Die Mutation hat dazu geführt, dass sich das Coronavirus besser an die Zelle binden kann», erklärt Virologe Volker Thiel, was das neue Virus derart ansteckender macht.

Wie kam es zu dieser Veränderung?

Egal, ob Corona-, Grippe- oder andere Arten von Viren: Für Mutationen müssen sie erst einmal in eine Körperzelle gelangen. Denn nur hier können sie sich vermehren.

Die gekaperten menschlichen Zellen missbrauchen die Viren dann, um immer neue Kopien von sich anzufertigen. Bei der Vervielfältigung der Erbinformation kommt es aber auch immer wieder zu Fehlern, also Mutationen.

So kann nach und nach eine Vielzahl von Virusvarianten oder Viruslinien entstehen, unter denen auch solche sein können, die dem Virus bei seinem Bestreben nach Vervielfältigung entscheidende Vorteile verschaffen können.

Den Mutationen des Coronavirus ist der Biophysiker Richard Neher seit Beginn der Pandemie auf der Spur.

Mit einer Art «Reisekarte» verfolgt und dokumentiert er alle Veränderungen. Der Stammbaum von Sars-CoV 2 zeigte schon im letzten Frühling einige Mutationen. Doch was ist jetzt anders?

«Wir haben immer erwartet, dass das Virus mutiert, und es hat es auch für viele Monate getan. Ungefähr eine Mutation alle zwei Wochen.» Jetzt gebe es aber Varianten, wo man auf einen Schlag fünf bis zehn zusätzliche Mutationen sehe.

Im Stammbaum zeigt sich dies als regelrechter Sprung. Waren es vorher acht Veränderungen, springt es fast ohne Zwischenschritt auf 38.

Um die Konsequenzen der Veränderungen zu verstehen, muss man sich die Zapfen des Virus – die Spike-Proteine – genau anschauen. Sie funktionieren wie ein Schlüssel: Trifft das Virus auf eine menschliche Zelle, muss es zuerst den Eingang finden, das Schlüsselloch sozusagen. Bei den früheren Versionen des Coronavirus dauert dies ein Weilchen und gelingt nicht immer.

Die Mutationen haben zu Änderungen an diesen Zapfen geführt. Konkret zu Veränderungen der Aminosäuren und dadurch auch der Oberfläche und Eigenschaft des Virus.

Das Virus besitzt nun ein zusätzliches Werkzeug, das mit einem Magnet verglichen werden kann. Mit diesem «magnetischen Schlüssel» findet das Virus den Eingang in die Zelle viel einfacher. Es kann schneller und effizienter an die Zelle andocken – was sich in einer 40 bis 70 Prozent höheren Ansteckungsrate ausdrückt.

Der Tippfehler im Gencode, der das Virus derart ansteckender macht, ist an der Stelle 501 zu finden. Welche Auswirkungen die dort veränderte Buchstabenfolge in der Aminosäure sonst noch hat, ist noch ungewiss.

«Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob sich das Virus stärker vermehrt», so Volker Thiel, «und ob die Personen, die so ein Virus tragen, es auch mehr verteilen.» Es könnte aber auch sein, dass das Virus stabiler ist – was es ihm ebenfalls erleichtern würde, sich zu verbreiten.

Um Antworten zu finden, hat der Virologe mit seinem Team die neue, ansteckendere Virusvariante aus Grossbritannien nachgebaut. So können die Fähigkeiten des Virus unter Laborbedingungen untersucht werden.

Mutationen müssen ein Virus für den Menschen nicht gefährlicher machen. Es wäre auch nicht in seinem Interesse. «Ein Virus will eigentlich nur dafür sorgen, dass es Nachkommen gibt. Dass es sich in der Natur erhält und sich weiter vermehren kann», erklärt Volker Thiel.

Für den Impfstoff können die Mutationen problematisch sein. Längst bekannt ist dieser Effekt bei Grippeviren. Sie mutieren sehr stark, verändern sich mit hohem Tempo und machen so jedes Jahr einen neuen Influenza-Impfstoff nötig.

Blüht dasselbe beim Coronavirus? Volker Thiel und Richard Neher sind sich einig: im Prinzip ja, aber nicht gleich jetzt. «Wir sollten uns wohl darauf einstellen, dass der Impfstoff in Zukunft auch aktualisiert werden muss», meint Biophysiker Neher. Er rechnet damit in zwei, drei Jahren. «Aber da fehlen uns im Moment einfach die Erfahrungswerte.»

«Die brasilianische Mutation bereitet mir am meisten Sorgen»

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Daniela Lager sprach im «Puls»-Studio mit Tanja Stadler. Die Bio-Statistikerin verfolgt an der ETH Zürich die Entwicklung des Coronavirus.

SRF: Wie gross ist laut Ihren Berechnungen der Anteil der britischen Mutation an den Ansteckungen in der Schweiz?

Für die Kalenderwoche 2 sind zwischen zwei und sechs Prozent aller neuen Fälle auf diese neue Variante aus Grossbritannien zurückzuführen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es etwa zehn Tage von der Ansteckung bis zum Aufscheinen in den Daten dauert. Die effektive Zahl wird also höher sein.

In England kam es um Weihnachten zu einem explosionsartigen Anstieg der Ansteckungen. Müssen wir in der Schweiz mit demselben Szenario rechnen?

Diese Dynamik in der Ausbreitung haben wir zeitverzögert dann auch in Dänemark gesehen. Es gibt keinen Grund, warum das bei uns nicht eintreten würde – ausser wir schaffen es, die Neuansteckungen zu reduzieren und diese ganze Epidemie zu verlangsamen. Wenn wir die bekannte Variante ungefähr stabil halten, dann verdoppelt sich die neue Variante jede Woche.

Im Gegensatz zur Situation in Grossbritannien sehen wir momentan bei den Hospitalisationen und Todesfällen, dass es etwas rückläufig ist. Das ist noch sehr fragil, aber in der Schweiz erwarten wir doch eine etwas langsamere Verbreitung der neuen Variante.

Sehen Sie schnell genug, wie sich das hochansteckende Virus verbreitet und wo mögliche Infektionsherde sind?

Die Zeitverzögerung zwischen Ansteckung und positivem Testresultat habe ich eingangs bereits angesprochen. Bei der neuen Variante kommt eine zusätzliche Herausforderung auf uns zu: Die Tests funktionieren zwar wie bei dem bisherigen Virus. Wenn einer positiv ausfällt, ist aber nicht klar, ob diese Person mit der bekannten Variante infiziert oder mit der neuen. Da braucht es nochmal eine Laboranalyse, und das kann je nach Verfahren einen bis mehrere Tage dauern.

Lässt sich diese Zeit noch verkürzen?

Ja. In den Diagnostiklaboren werden jetzt spezifische Verfahren entwickelt, damit man speziell auf diese eine Variante testen kann.

Nun ist die britische Mutation nicht die einzige, es gibt noch die südafrikanische oder die brasilianische Mutation. Welche bereitet ihnen denn derzeit am meisten Sorge?

Ganz wichtig ist, dass diese drei Varianten unabhängig voneinander entstanden sind, aber alle die Mutation 501 gemein haben. Sie erlaubt es dem Virus wohl, besser an die menschliche Zelle anzudocken.

Bei der Variante, die in Grossbritannien identifiziert worden ist, zeigt sich: Damit scheint weder die Impfung noch unser Immunsystem schlechter zurande zu kommen. Aber speziell bei der in Brasilien – in einem Gebiet, wo schon sehr viele Personen infiziert waren – identifizierten Variante hat es eventuell unser Immunsystem etwas ausgetrickst, und wir können nicht mehr so gut antworten.

Die macht Ihnen also wirklich Sorgen.

Ja.

Die meisten Kantone hinken beim Contact Tracing immer noch hinterher. Ziemlich fatal in der jetzigen Situation, oder?

In der Tat. Wir haben leider immer noch diese hohen Fallzahlen, und es ist wie angesprochen halt enorm schwierig, diese neuen Varianten zu finden und ihnen noch effizienter zu folgen. Das ist eine enorme Herausforderung.

Eine exponentielle Ausbreitung in hohem Tempo könnte nicht nur unser Gesundheitswesen, sondern auch die laufende Impfkampagne gefährden. Weshalb?

Wir impfen ja gesunde Leute. Nicht isolierte, in Quarantäne oder solche mit Symptomen. Dann: Wenn wir ein sehr hohes Krankheitsaufkommen haben, sind die Leute in den Impfzentren betroffen. Und als drittes: Wenn wir hohe Fallzahlen haben, haben wir das Virus sehr stark um uns herum – und es kann wieder mutieren und der Impfung entfliehen. Das Ziel wäre also, möglichst wenig Viren im Umlauf zu haben.

Reichen die aktuellen Massnahmen, um ein exponentielles Wachstum in der Schweiz zu verhindern?

Das ist natürlich die Frage. Es kommt sicher auf uns alle an. Auf Einzelpersonen, die Gesellschaft, Firmen, wie wir das umsetzen. Das sehen wir immer wieder: Verschiedene Länder, verschiedene Bündel an Massnahmen und es kommt anders raus. Entscheidend wird sein, wie konsequent wir die Regeln umsetzen.

Lässt sich eine dritte Welle verhindern oder kommt die einfach?

Ich denke: Zahlen runter, parallel impfen und so mehr und mehr Immunität in der Bevölkerung erreichen – dann besteht Hoffnung, dass man nochmal ein Aufflammen der Pandemie verhindern kann.

Und diese Hoffnung haben Sie persönlich auch?

Ja, da arbeiten wir alle darauf hin.

Puls, 18.01.2021, 21:05 Uhr

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