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Berühmter Selbstversuch «Es wäre kein Selbstmord, ich stürbe im Dienste der Wissenschaft»

Die Cholera wünscht man nicht einmal seinem ärgsten Feind. Und doch schluckte der Münchner Arzt Max von Pettenkofer 1892 freiwillig Cholerabakterien. Er wollte seine Theorie zur Ansteckungsweg der Seuche beweisen. Sein Selbstversuch ist einer der berühmtesten der Medizin – aber nicht der einzige.

Am 7. Oktober 1892 schluckt Max von Pettenkofer in München eine gewaltige Dosis an Cholerabakterien: «Den Choleratrank nahm ich vor Zeugen zu mir. Einige erboten sich, sich für ihren alten Lehrer zu opfern: Aber ich wollte nach dem alten ärztlichen Grundsatz handeln: Macht Experimente in wertlosen Körpern.»

Der 73-Jährige spielt auf seine Altersgebrechen an. Aber umbringen will er sich nicht. Pettenkofer ist überzeugt, dass er sich nicht anstecken wird. Dagegen spricht nämlich seine Theorie. Sie besagt, dass das Cholerabakterium einen Menschen nicht direkt ansteckt. Es muss vielmehr erst in den Boden gelangen und sich dort wandeln, um infektiös zu werden. Damit dies geschieht, muss der Boden geeignet sein.

Zur Zeit des Selbstversuchs wütet die Cholera in Hamburg, jedoch nicht in München, schreibt Pettenkofer später. Und er will nun zeigen, dass der Hamburger Boden den Cholerakeim ansteckend macht – aber eben nicht der Münchner Boden. Deshalb lässt er sich die Bakterien aus der Hafenstadt zuschicken: «Da München trotz vieler Zuzüge vom betroffenen Hamburg von Cholera frei blieb, entschloss ich mich unbedenklich zu dem Versuch.»

Dem Tod ruhig ins Auge schauen

Gemäss Pettenkofers Theorie schützte der Münchner Boden die Stadtbewohner vor der Seuche. Doch sollte er sich irren, sei das auch kein Unglück, findet er: «Selbst wenn ich mich täuschte, und der Versuch lebensgefährlich wäre, würde ich dem Tode ruhig ins Auge sehen, denn es wäre kein leichtsinniger Selbstmord, ich stürbe im Dienste der Wissenschaft.»

Exakt protokolliert Pettenkofer, was nach der Einnahme des Choleratranks geschieht: «Am 9. Oktober stand ich morgens 6 Uhr auf, frühstückte um 7 Uhr wie täglich. Um 7 Uhr 30 hatte ich Stuhlgang, weichbreiig, von brauner Farbe. Um 9 Uhr 30 hatte ich starkes Gurren in den Gedärmen. Um 10 Uhr ass ich eine gekochte Wurst mit einem Salzstängelchen.»

Pettenkofer leidet einige Tage an Bauchgrimmen und Durchfall, aber nichts, was mit der Cholera vergleichbar ist. Aus seiner Sicht hat der Versuch seine Theorie bestätigt: Ohne Reifung im Boden waren die Bakterien harmlos. Trotzdem verliert sie in den Jahren danach immer mehr Anhänger.

Sie war ja auch falsch.

Warum Pettenkofer nicht ernsthaft erkrankte und starb, ist unklar. Vielleicht hatte er schlicht Glück oder die Bakterien hatten sich während der Zucht im Labor abgeschwächt. Heute weiss man, dass das Cholerabakterium Vibrio cholerae keine Umwandlung im Boden durchmachen muss, um ansteckend zu sein. Im Fall der Hamburger Epidemie von 1892 wurde es von ausserhalb eingeschleppt und verbreitete sich dann über die Trinkwasserversorgung, weil die Stadt ihr Wasser aus der Elbe bezog, ohne es genügend zu reinigen.

Auch andere wagten Selbstversuche

So verrückt die Geschichte heute anmutet, Selbstversuche hatten früher in der Medizin Tradition. Anfang des 19. Jahrhunderts rieb sich etwa der US-amerikanische Medizinstudent Stubbins Ffirth das Erbrochene von Gelbfieberpatienten in Schnittwunden, die er sich selbst beigebracht hatte. Er wollte beweisen, dass die Krankheit von Mensch zu Mensch übertragen wird. Aber nichts passierte. Weitere Versuche mit Blut, Stuhl, Urin blieben ebenfalls folgenlos – das Virus wird von Mücken weitergegeben.

200 Jahre später hängte sich der rumänische Gerichtsmediziner Nicolas Minovici gar 12 mal eigenhändig auf. Einmal hielt er 26 Sekunden durch und beobachtete an sich, was dabei passiert. Im 18. Jahrhundert hatten sogar manche Wissenschaftler gefordert, dass jeder pflanzliche Wirkstoff nach dem Tierversuch am Forscher selbst getestet werden müsse.

Erst Magenentzündung, dann Nobelpreis

Mit den immer strengeren Forschungsstandards wurden die Selbstversuche im Verlauf des 20. Jahrhunderts seltener. Einzelne aber griffen immer noch zu diesem Mittel. 1984 zum Beispiel der australische Arzt Barry Marshall. Er schluckte Bakterien der Art Helicobacter pylori, um zu zeigen, dass sie für Magenentzündungen und damit indirekt für Magengeschwüre und Magenkrebs verantwortlich sind.

Marshall bekam prompt eine Magenentzündung, die er mit Antibiotika kurierte. 2005 bekam Barry Marshall den Nobelpreis.

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