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Verordnung ohne Wirkung Krankmacher Strassenlärm

  • Ende März läuft die 30-jährige Frist zur Lärmsanierung der Schweizer Strassen ab. Vom Erfüllen der Lärmschutzvorgaben sind Kantone und die meisten Gemeinden meilenweit entfernt.
  • Über eine Million Menschen sind nach wie vor von übermässigem Strassenlärm betroffen.
  • Strassenlärm trägt massgeblich bei zu jährlich 500 Toten wegen Herzkreislauf-Erkrankungen und 2500 neuen Diabetesfällen – auch bei Menschen, die sich nicht von Lärm belästigt fühlen.

11'000 Fahrzeuge. So viele fahren durchschnittlich Tag für Tag durch die Avenue Vinet in Lausanne – direkt am Küchenfenster von Carmen und Vittorio Renna vorbei, die hier seit vierzig Jahren wohnen. Die gesetzlichen Grenzwerte von 65 Dezibel am Tag und 55 Dezibel in der Nacht werden dauerhaft und deutlich überschritten.

Das Ehepaar leidet stark unter der Situation. Carmen Renna muss manchmal sogar Medikamente nehmen zur Beruhigung. Die Enkelin will wegen des Lärms nicht mehr bei den Grosseltern übernachten.

Älteres Paar in einer geliesten Küche
Legende: In der Küche von Carmen und Vittorio Renna ist bei offenem Fenster keine Unterhaltung möglich. srf

So wie den Rennas geht es vielen in der Schweiz. Rund 800’000 Menschen fühlen sich von Strassenlärm dauerhaft belästigt, 500'000 schlafen deswegen schlecht. Das hat Lärmexperte Martin Röösli vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut Swiss TPH exklusiv für SRF berechnet.

Unbemerkte Belastung

Doch Lärm ist weit mehr als nur lästig, sagt Röösli. Lärm kann auch krank machen – selbst dann, wenn man sich nicht einmal belästigt fühlt.

Lärm erhöht die Herzfrequenz und den Blutdruck. Es werden auch mehr Stresshormone ausgeschüttet. Das wiederum kann dazu führen, dass das Blut schneller gerinnt und die Blutgefässe langfristig weniger elastisch werden. Damit steigt das Risiko eines Gefässverschlusses.

Je nachdem, wo ein solcher Verschluss den Blutfluss stoppt, wird es sehr schnell lebensgefährlich.

So schadet Strassenlärm der Gesundheit

Wegen Strassenlärm sterben in der Schweiz rein statistisch gesehen jedes Jahr 500 Menschen an Herzkreislauf-Krankheiten, hat Martin Rössli berechnet.

Die chronische Ausschüttung von Stresshormonen beeinflusst zudem den Insulinstoffwechsel. Und schlechter Schlaf führt ganz allgemein zu einem veränderten Stoffwechsel. So erkranken in der Schweiz jährlich rund 2500 Menschen an Diabetes.

Im Einzelfall nicht nachweisbar

Matthias Zbären ist so ein Fall. Er wohnt in Horgen im Kanton Zürich an einer stark befahrenen Strasse. Und er ist Diabetiker, hat zwei Herz-Operationen hinter sich und muss blutdrucksenkende Medikamente nehmen.

Mann mit Blutdruckmesser an Tisch
Legende: Matthias Zbären führt seine gesundheitlichen Probleme auch auf die lärmbelastete Wohnlage zurück. srf

Im Einzelfall lässt sich zwar nicht nachweisen, dass Lärm die Ursache für eine solche Erkrankung ist. Aber das Risiko dafür nimmt mit jedem zusätzlichen Dezibel zu.

Matthias Zbären kämpft deshalb seit Jahren dafür, dass die Strasse neben seinem Haus lärmsaniert wird – bisher erfolglos. Dabei wären die Gemeinden und Kantone gesetzlich verpflichtet, bis Ende dieses Monats ihre Strassen saniert zu haben. Doch von diesem Ziel sind sie weit entfernt.

Drei Jahrzehnte haben nicht gereicht

Box aufklappen Box zuklappen

In der Lärmschutz-Verordnung zum Umweltschutzgesetz ist eine klare Frist festgelegt: Die zur Einhaltung der Grenzwerte erforderlichen Sanierungen und Schallschutzmassnahmen der Schweizer Strassen müssen bis zum 31. März 2018 durchgeführt sein.

Die Frist wird definitiv verpasst. Begründet wird dies von den zuständigen Stellen mit fehlenden Finanzen und langwierigen Einspracheverfahren – und der riesigen Anzahl notwendiger Sanierungen in der ganzen Schweiz. Die habe bei Behörden wie Firmen zu Engpässen geführt.

Die Bundesbeiträge für die Lärmsanierung der Kantons- und Gemeindestrassen wurden nun bis 2022 verlängert.

Auf Nachfrage von SRF konnten oder wollten die wenigsten Kantone überhaupt angeben, wie viele Menschen noch mit Lärm über den gesetzlichen Grenzwerten leben müssen. Und die wenigen Kantone, die Antwort gaben, sind weit vom Ziel entfernt.

Allein im Kanton Zürich müssen noch rund 330'000 Menschen mit Lärm über dem Grenzwert leben. In der ganzen Schweiz sind es über eine Million.

Klagen können nur Hauseigentümer

Jetzt ist Mathias Zbären mit seiner Geduld am Ende. Nach Ablauf der Frist Ende März will er postwendend gegen den Kanton Zürich klagen. Unterstützung erhält er dabei von der Lärmliga Schweiz, die an einem Klagepool arbeitet. Sobald 300 Klagewillige beisammen sind, sollen drei Musterprozesse bis ans Bundesgericht geführt werden.

Es geht darum, ein Zeichen zu setzen und einen Stachel in das behördliche Nichtstun zu treiben.

Klagen können nur Hauseigentümer. Und zwar nicht wegen der gesundheitlichen Folgen des Strassenlärms, sondern auf Schadenersatz wegen Wertminderung ihrer Liegenschaft.

Finanziell wird dabei nicht viel herausschauen. «Es geht darum, ein Zeichen zu setzen und einen Stachel in das behördliche Nichtstun zu treiben», erklärt Lärmliga-Präsident Peter Ettler, «damit die Betroffenen nicht wieder 30 Jahre warten müssen, bis sich vielleicht mal etwas tut.»

Das Ehepaar Renna hat einen anderen Weg gewählt: Sie haben sich im Quartierverein zusammengeschlossen, um gegen den Lärm zu kämpfen. Mit ersten Erfolgen: An ihrer Strasse gilt vorübergehend Tempo 30 in der Nacht – mit messbaren Auswirkungen auf den Lärm.

Pilotprojekt: Tempo 30 in der Nacht

Box aufklappen Box zuklappen

Lärmschutz lässt sich auf verschiedenen Wegen erreichen, etwa mit Schallschutzmauern oder speziellen Strassenbelägen. Doch diese Massnahmen sind teuer.

Viel billiger sind Temporeduktionen. An der Avenue Vinet in Lausanne läuft zur Zeit ein Pilotversuch mit Tempo 30 statt 50 in der Nacht.

Die bisherigen Resultate sind vielversprechend.

  • Der Lärm hat um 2,5 Dezibel abgenommen. Das entspricht in der Lärmwahrnehmung fast einer Halbierung des Verkehrs.
  • Die Lärmspitzen, die die Menschen aufwecken, haben sogar um 4 Dezibel abgenommen.

In einer Umfrage gaben 60 Prozent der befragten Anwohner an, eine Verbesserung bemerkt zu haben. Ob aus dem Pilotversuch ein Dauerzustand wird, entscheidet sich 2019.

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