Richard Glenn ist Manager eines Milliarden-Konzerns. Er ist aber auch Walfänger. Von seinem Büro im 3. Stock sieht er die Tschuktschensee, Teil des arktischen Ozeans. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein Bild, das einen Mann in fellbesetztem Mantel auf dem Packeis zeigt, der nach Beute Ausschau hält. Glenn ist Inupiaq. Dieser Stamm lebt im äussersten Norden Alaskas.
Die Lebensumstände der Inupiat – die Mehrzahl von Inupiaq – haben sich in den letzten 150 Jahren in atemberaubendem Tempo verändert. Es gibt Tage, an denen Glenn morgens ein Millionengeschäft abschliesst, und am Nachmittag auf dem gefrorenen Meer an der Eiskante steht und nach Walen Ausschau hält.
Der Klimawandel bringt Wandel
Die neueste Entwicklung, mit denen sich die Inupiat auseinandersetzen müssen, ist der Klimawandel. Keine Region der Erde hat sich in den letzten Jahrzehnten im Klimawandel mehr aufgeheizt als die Arktis. Das Festlandeis auf Grönland schmilzt, und auch das Meereis auf dem arktischen Ozean geht dramatisch zurück. Letztes Jahr erreichte die Schmelze einen neuen Rekord. Am Ende der Schmelzsaison war die Meereisfläche noch halb so gross wie im langjährigen Mittel. Gut möglich, dass der Negativrekord kommenden September gebrochen wird.
Die Meereisschmelze beschleunigt den Klimawandel im hohen Norden. Der Ozean kann mehr Wärme aufnehmen, weil er immer weniger von Eis bedeckt ist. Dies verstärkt den Eisrückgang weiter. In der Wissenschaft laufen die Wetten, wann das arktische Meer im Sommer zum ersten Mal eisfrei sein wird. In 5 Jahren? In 20 Jahren? Die Auswirkungen sind global. Forscher vermuten, dass die langen Kälteperioden, die dieses Frühjahr halb Europa erstarren liessen, auf die Meereisschmelze zurückgehen.
Run auf die Bodenschätze
Der Wandel geht aber weit übers Klima hinaus. Das schmelzende Eis gibt zumindest im Sommer Ozeangebiete frei, in deren Grund grosse Ölvorkommen vermutet werden. Der Ölkonzern Shell hat 2012 vor Barrow zum ersten Mal danach gebohrt. Reedereien schauen interessiert auf die legendäre Nordost-Passage, die New York auf einer Route entlang der kanadischen Arktisküsten und an Alaska vorbei mit Ostasien verbindet. Erste Fahrten sind unternommen worden. Auf der Baffin-Insel in der kanadischen Arktis schlummern riesige Eisenvorkommen, die Kanada nur allzu gern ausbeuten und in die europäischen Hochöfen verschiffen würde.
Barrow, der nördlichste Ort Alaskas, liegt im Epizentrum dieser Umwälzungen. Hier leben 4500 Menschen, etwas über die Hälfte davon sind Inupiat, die traditionellen Bewohner der Gegend. Auf den ersten Blick erscheint das Land abweisend. Die Tundra ist im Sommer ein Flachland voller Seen, Tümpel und Moore, im Winter eine Ödnis unter Schnee und Eis. Die Tages-Höchsttemperatur steigt nur an 120 Tagen im Jahr über den Gefrierpunkt. Das Meer vor Barrow ist rund acht Monate im Jahr gefroren – noch. Theoretisch kann man vom Strand aus loslaufen und über das Packeis zum Nordpol gelangen.
Doch das Land um Barrow ist reich. Durch die Tundra ziehen Karibu-Herden, Moschusochsen, Füchse. Auf dem Meereis leben Robben, Walrösser, Eisbären. Im Frühling und Herbst ziehen Tausende von Grönlandwalen auf ihren Wanderungen an Barrow vorbei. Die Inupiat haben seit Jahrhunderten von diesem Reichtum gelebt. Mit dem Hundeschlitten jagten sie auf dem Land, mit Ruderbooten stellten sie Grönlandwalen nach.
Die Yankees brachten Schulen und den Alkohol
Vor etwa 150 Jahren drangen Walfänger aus den USA in die Gewässer vor Barrow vor. Zuerst auf der Jagd nach Walöl, danach standen die elastischen Barten der Grönlandwale im Fokus, unverzichtbarer Bestandteil für Korsette. Den Inupiat brachte der Kontakt mit den Yankees Schulen, Kirchen und bessere Wal-Harpunen, aber auch neue Krankheiten, Alkohol und ein rasender Umbruch, mit dem niemand einfach so fertig wird.
Im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg machte sich das US-Militär in Alaska breit. In Barrow entstanden Radaranlagen, die den sowjetischen Feind auf der anderen Seite des Meeres überwachten, und eine Forschungsstation, um die exotische Arktis für die Militärs fass- und kontrollierbarer zu machen. Für die Inupiat gab es Hilfsjobs.
Mit dem Öl kam der Reichtum
1968 wurde auf dem nördlichen Küstenstreifen bei Prudhoe Bay Öl entdeckt. Viel Öl. Es entpuppte sich als grösstes Vorkommen der USA. Diesmal schafften es die Inupiat, sich ein Stück von der Dividende des Wandels zu sichern. Nach langem Kampf gelang es ihnen 1971, ihre Landansprüche mit dem Staat Alaska und der Bundesregierung zu regeln. Sie und die anderen Stämme Alaskas erhielten einige Prozent der Staatsfläche und fast eine Milliarde Dollar. Mit diesem Geld wurden native corporations gegründet – Firmen, die den Ureinwohnern gehören.
Die Corporation der Inupiat, die Arctic Slope Regional Corporation, ist heute die grösste Firma in Alaska überhaupt. Richard Glenn ist Manager in diesem Konzern, der eifrig mit Ölfirmen geschäftet. Viel Ölgeld floss auch als Steuern in die Kassen der Inupiat. Ihr Bezirk mit dem Hauptort Barrow ist reich. Dank des Geldes haben etwa die Hälfte aller Bewohner von Barrow einen sicheren Job bei den Bezirksbehörden. Das lokale Gymnasium ist weitherum bekannt für seine luxuriöse Ausstattung.
Öl oder Wale? Eine Überlebensfrage
Trotz des Geldflusses versuchen die Inupiat, ihre Traditionen zu bewahren. Dreh- und Angelpunkt ist die Jagd, das Herzstück die Waljagd. Doch der jüngste Wandel im Norden Alaskas stürzt sie ins Dilemma. Das Öl bei Prudhoe Bay geht zur Neige. Soll das Geld weiter fliessen und ihren Lebensstandard sichern, so müssen die Inupiat zustimmen, dass nun jenes Öl gefördert wird, das sich vermutlich im Meeresboden direkt vor ihrer Küste befindet. Eine Ölpest würde das heikle arktische Meer gefährden – und ihre wichtigste Jagdbeute, die Grönlandwale. Das Unglück der Ölplattform Deep Water Horizon im Golf von Mexiko von 2010 hat diese Ängste noch verstärkt.
Öl wird an vielen Orten in der Arktis vermutet, in der Barentsee nördlich von Norwegen und Russland, um Grönland herum, vor Alaska und der Küste Kanadas. Überall stehen die Bewohner vor dem selben Dilemma: Öl fördern, Wirtschaft ankurbeln, Jobs in den abgelegenen Norden holen? Oder auf die traditionelle Lebensweise setzen? Kann man beides kombinieren? Barrow ist überall im hohen Norden.