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Sommerserie «Extrem!» Das ganze Leben im Kopf

Das Meiste, was wir erlebt haben, vergessen wir. Doch manche ticken anders: Sie horten im Gedächtnis unzählige Erinnerungen. Das Wetter am 23. März 2003? Bewölkt. Zmittag am 5. Januar 1976? Kartoffelstock. Wie diese Ausnahme-Erinnerer das anstellen, versucht die Gedächtnis-Forschung zu ergründen.

Jerrard Heard weiss genau, was er am 1. Juli 1996 gemacht hat. «An dem Tag habe ich frei genommen. Zu Hause etwas zu Mittag gegessen und dann noch ein Baseballspiel geschaut. Die Montreal Expos spielten gegen die Atlanta Braves.» Was er allerdings nicht weiss: Warum er sich an diesen banalen Tag vor 17 Jahren so genau erinnert.

Erinnerungen als chaotischer Film

Heard ist einer von 50 Probanden in einem kalifornischen Forschungsprojekt. Vor gut zehn Jahren entdeckten die Wissenschaftler das Phänomen HSAM: highly superior autobiographic memory (zu deutsch: weit überdurchschnittliches autobiographisches Gedächtnis).

Zeichnung mit einem Männchen, das Erinnerungen aus seinem Kopf in einen Mülleimer schüttet.
Legende: Fluch oder Segen? Manche Betroffene würden viele Erinnerungen gerne verlieren; andere sehen sie als Bereicherung. Colourbox

Eine Frau hatte sich bei den Forschern gemeldet, weil sie in einer Flut aus Erinnerungen zu ertrinken drohte. «Ich hoffe dass Sie mir helfen können», schrieb sie. «Erinnerungen platzen völlig zufällig in meinen Kopf, ohne dass ich sie stoppen kann. Es ist wie ein chaotischer Film, bei dem jemand die unterschiedlichsten Szenen zusammen geschnitten hat.»

Seither untersuchen die Wissenschaftler Menschen mit HSAM. Sie analysieren ihre Gene und durchleuchten ihre Gehirne. «Doch noch immer haben wir keine Ahnung, wie ihr Gedächtnis funktioniert», sagt Aurora LePort von der University of California in Irvine, die als Neuropsychologin am Forschungsprojekt mitwirkt.

Den inneren Kalender durchblättern

Nicht alle Menschen mit HSAM leiden unter den vielen Erinnerungen. Jerrard Heard, der als Pfarrer arbeitet, empfindet sein Gedächtnis als Bereicherung. «Ich glaube, dass es mir leichter fällt, aus der Vergangenheit zu lernen.»

Sein Gedächtnis beschreibt Heard als eine Art Kalender, den er vor seinem inneren Auge sehe. Die Erinnerungen würden sich wie bunte Bilder in diesen Kalender einfügen. Ganz von selbst. Er wende keine Strategie an und versuche auch nicht bewusst, sich Dinge einzuprägen. Für jeden Monat seit seinem sechsten Altersjahr seien um die 20 Erlebnisse abgespeichert.

Durchschnitt beim Auswendiglernen

Überrascht waren die Forscher, als sie Heard und die anderen HSAM-Probanden auf weitere Gedächtnisfunktionen testeten: Die Super-Erinnerer sind völliger Durchschnitt, wenn es etwa darum geht, Zahlenreihen oder Wortpaare auswendig zu lernen. Sie unterscheiden sich nur in ihrem autobiographischen Gedächtnis von der Normalbevölkerung.

Aurora LePort und ihre Kollegen hoffen, dass HSAM ihnen hilft, das ganz normale Ich-Gedächtnis besser zu verstehen – wie es unsere Identität formt und warum wir so viel vergessen. «Die Wissenschaft lernt oft aus Kontrasten», sagt LePort. Doch noch steht die Forschung vor einem Rätsel.

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