- Die Avatar-Popsängerin Hatsune Miku fasziniert und begeistert Millionen Fans.
- Mit einer Pop-Oper erobert sie dank Komponist Keiichiro Shibuya nun auch «ernste» Kulturbühnen.
- Fachleute sehen Avatare als Bereicherung: Sie dürften menschliche Künstler nicht verdrängen, aber das Spektrum des Möglichen erweitern.
Eine künstliche Künstlerin
Der Mensch und die Maschine: Keiichiro Shibuya liebt es, die Grenzen dazwischen zu verwischen. Er hat eine Pop-Oper für eine Sängerin geschrieben, die aus dem Computer kommt: Hatsune Miku ist eine japanische Software, ein Avatar, der Gesang von sich gibt. Fans können Songs für sie schreiben und von ihr singen lassen.
Was Keiichiro Shibuya an der Arbeit mit künstlichen Künstlern fasziniert, erklärte er bei einem Gespräch in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel. Dort feierte seine Pop-Oper « The End » Deutschlandpremiere.
Das Stück dreht sich um die Todessehnsucht einer projizierten Figur mit künstlicher Stimme – und es entstand nach dem frühen Tod von Shibuyas Frau.
Nicht lebendig – nicht tot
Ein Wesen, das nie gelebt hat, sinniert über den Tod – für Shibuya kein Widerspruch. Im Gegenteil: «Der Tod meiner Frau ist für mich eine sehr persönliche Sache. Ich suchte nach einer abstrakteren, allgemeingültigeren Form.»
Bei Hatsune Miku gebe es nichts Persönliches, so de Komponist: Eine virtuelle Figur erlaube ihm, direkter über das Leben und den Tod nachzudenken. Und sie kann Dinge, die kein Mensch kann: singen, ohne Luft zu holen, wachsen, schrumpfen, sich verdoppeln oder verwandeln. Für das Publikum führt das zu einer Erfahrung, die so nur in der digitalen Welt möglich ist.
Das Unheimliche und das Schöne
Shibuya blickt auch gerne über die Musik hinaus und lässt sich von der Wissenschaft inspirieren. Mit Hiroshi Ishiguro, einem weltweit führenden Roboterforscher, ist er befreundet. Mit ihm und seinen Robotern will er nächstens ein Projekt lancieren.
Ishiguro baut menschenähnliche Roboter in Lebensgrösse mit künstlicher Haut, die sogar die menschliche Mimik imitieren. «Manche Wissenschaftler sind noch verrückter als wir Künstler!», sagt Shibuya mit einem Lachen.
Trotzdem: «Dass die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmt, hat auch etwas Beängstigendes.» Das wolle er in seiner Kunst aufnehmen. «Viele Künstler in Asien richten sich danach, was für die Masse angenehm ist», erklärt Shibuya, «aber das interessiert mich nicht. Ich suche in der Musik nach dem, was gleichzeitig beängstigend und schön ist.»
In «The End» wird das spürbar: Einerseits ist das Stück eine beinahe brutale Überforderung der Sinne, andererseits gibt es Passagen von einer überraschenden Zartheit, die dadurch umso stärker wirken.
Ergänzen statt verdrängen
Andràs Siebold sieht Avatare auf der Bühne als Bereicherung. Der künstlerische Leiter des Kampnagel-Sommerfestivals hat Shibuya nach Hamburg geholt. «Avatare erweitern den Horizont dessen, was auf einer Bühne möglich ist», sagt er.
Das heisse aber nicht, dass sie die Menschen auf einer Bühne allmählich ersetzen würden. «Hologramme erweitern das Spektrum. Das Traditionelle wird deswegen nicht verdrängt: Als der Techno aufkam, hat er klassische Konzerte oder Rockmusik ja auch nicht verdrängt.»
Es kommt also vielmehr zu einer befruchtenden Wechselwirkung. Um beim Beispiel zu bleiben: Die elektronische Musik greift auf die Klassiker zurück, während elektronische Einflüsse heute auch in der Rockmusik oder in der Klassik zu hören sind.
Mensch? Maschine? Mischung?
Keiichiro Shibuya hat von der Stimm-Software erst einmal genug: Für sein neues Album arbeitet er wieder mit menschlichen Stimmen. Allerdings wird er sie digital so verfremden, dass sie klingen, als ob sie aus dem Computer kämen.
Mindestens, wenn es um Gesang geht, verliert die Grenze zwischen Mensch und Maschine an Trennschärfe – und damit vielleicht auch an Bedeutung.