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Der Cybathlon: Fluch oder Segen für Menschen mit Handicap?

Beim Cybathlon kommen Technologien zum Einsatz, die Menschen mit Behinderung unterstützen sollen. Die Veranstaltung stösst aber nicht nur auf Begeisterung. Einer der Kritikpunkte: Der technische Fortschritt konzentriere sich nur darauf, Betroffene körperlich zu «verbessern» – nicht ihre Umgebung.

Beim Cybathlon treten Athleten mit Behinderung gegeneinander an – unterstützt von Hightech-Rollstühlen und -Prothesen. Erklärtes Ziel des von der ETH Zürich organisierten Wettkampfs: Solche Assistenzsysteme für Behinderte sollen besser werden.

Doch nicht alle, die davon profitieren sollen, sehen das Kräftemessen von Prothesen- und Rollstuhl-Entwicklern positiv.

Der Cybathlon beseitigt Probleme nur bei Behinderten.

Historiker Brian McGowan, der seit seiner Kindheit im Rollstuhl sitzt, kritisiert, dass am Cybathlon präsentierte Technologien den Menschen mit Behinderung «verbessern» wollen.

Zur Person

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Historiker Brian McGowan, 36, ist Gründungsmitglied und Präsident des Vereins Sensability.ch, der rund ums Thema Gleichstellung und Behinderung berät und informiert. Er war zuvor Leiter der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern.

Der «Makel» des Amputierten wird mit einer Prothese behoben; der Querschnittgelähmte soll mit Hilfe eines Exoskeletts wieder gehen.

Ein Rückfall in eine eigentlich überwundene Zeit? Denn: Bis in die 1980er Jahre habe man Behinderung nur als individuelles Merkmal betrachtet, so McGowan. Wenn ein Mensch im Rollstuhl eine Treppe nicht überwinden konnte, galt das, überspitzt gesagt, als «sein Problem».

Primär Hindernisse abbauen

Heute sieht man das anders: Zur Behinderung gehören zwei – ein Mensch mit Handicap und ein Hindernis. Das heisst: Ein Mensch mit Behinderung ist erst behindert, wenn er vor einer unüberwindbaren Barriere steht.

Deshalb fordert McGowan, dass man nicht vergisst, die Umwelt anzupassen: «Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin natürlich froh und dankbar um die technologischen Errungenschaften», sagt er. «Im Sinne der Gleichstellung wünsche ich mir aber, dass der Fortschritt nicht nur beim Einzelnen, sondern auch beim Abbau von Hindernissen in der Umwelt stattfindet.»

Dies, so McGowan, habe noch einen Vorteil: Oft profitiere nämlich die ganze Gesellschaft davon. Werde etwa eine Treppe durch eine Rampe ersetzt, sei das auch praktischer für ältere Menschen mit Rollator und Eltern mit Kinderwagen.

Viele neue Technologien erfüllen kein Bedürfnis.

Ob die am Cybathlon vorgestellten Hilfsmittel wirklich den Bedürfnissen von Behinderten entsprechen, ist umstritten.

Zur Person

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Peter Wehrli ist Psychologe und Geschäftsleiter der Genossenschaft «Zentrum für Selbstbestimmtes Leben», die sich für eine barrierefreie, gleichberechtigte Gesellschaft einsetzt. Er ist seit 60 Jahren Rollstuhlfahrer.

Der Idee eines treppensteigenden Rollstuhls zum Beispiel kann Peter Wehrli, selbst Rollstuhlfahrer, nichts abgewinnen: «Mit einem Rollstuhl Treppen steigen – so ein Unsinn! Das wäre, wie wenn man mit dem Auto bergsteigen wollte.»

Wehrli gibt zu bedenken, dass solche Rollstühle weder für weite Fahrten ausser Hause noch für präzises Navigieren im Haus geeignet sind.

Brian McGowan sähe in einem treppensteigenden Rollstuhl zwar Vorteile, aber auch noch viele offene Fragen. Etwa: Könnte man mit einem Rollstuhl, der so viel Elektronik enthält, unter die Dusche? Und wären die Geräte überhaupt bezahlbar?

Cybathlon-Initiator Robert Riener verweist hierzu auf die Zukunft: «Natürlich ist es im Alltag wichtig, dass ein Gerät lange oder bei Regen funktioniert und auch finanzierbar ist», sagt er, «das sind Faktoren, die wir noch nicht integrieren konnten.»

Bedürfnisse: Fantasie und Realität

Auch von Exoskeletten, mit denen Gelähmte gehen können, hält Peter Wehrli nichts: «Der Wunsch, wieder gehen zu können, ist eine Fantasie der Nicht-Behinderten.» Auch McGowan bestätigt, dass es nicht sein wichtigster Wunsch sei, wieder gehen zu können.

So sprechen die Beiden an, was auch andere bemängeln: Manche Forscher und Entwickler würden Betroffene nicht nach ihren Bedürfnissen fragen, sondern sich diese selber ausdenken.

Sie fordern, dass man Menschen mit Behinderung frühzeitig miteinbezieht. Denn laut Wehrli gibt es nur einen erfolgreichen Weg, alltagstaugliche Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung zu entwickeln, nämlich «gemeinsam mit ihnen, nicht ‹wohltätig für sie›».

Genau diese Zusammenarbeit von Technologie-Entwicklern und Menschen mit Behinderung sei, so ETH-Professor Robert Riener, ein wichtiges Anliegen des Cybathlons: «In allen Teams werden Piloten und Mediziner in die Entwicklungsphase miteinbezogen. Die Wünsche und Bedürfnisse der Leute mit Behinderung finden so Gehör.»

Beim Cybathlon werden Behinderte von Forschern instrumentalisiert.

Ist der Cybathlon für Menschen mit Behinderung eine gute Sache oder nicht? Darüber scheiden sich die Geister. Brian McGowan sieht den Cybathlon als Chance für Menschen mit Behinderung — unter der Voraussetzung, dass man dabei auch ihre Gleichstellung in der Gesellschaft diskutiert.

Peter Wehrli hingegen empfindet den Anlass als «Missbrauch von Menschen mit Behinderung zum Zweck der Mittelbeschaffung für Forscherinnen und Forscher».

Cybathlon-Initiator Robert Riener wehrt sich: «Das hört sich an, als ob Forschung eine Sünde wäre! Was wäre denn schlimm daran, mit Hilfe einer Veranstaltung wie dem Cybathlon, Gelder zu akquirieren für Forschung?»

Riener stellt auch klar, dass einige Behinderten-Organisationen den Cybathlon unterstützen: «Für den Cybathlon haben wir genau solche kritische Stimmen früh ernst genommen und deshalb die grössten Behinderten-Organisationen ins Boot geholt. Die meisten sind nun nicht nur Patronatsgeber, Gönner oder Sponsoren, sondern beraten uns auch fachlich.»

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