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Technik «Wir müssen den Körper dort erweitern, wo er aufhört»

Max Rheiner tüftelt an der Zürcher Hochschule als Interaktionsdesigner an der gemeinsamen Zukunft von Mensch und Maschine. Ob interaktive Vogelflüge oder künftige Computer ohne Tastaturen: Tag und Nacht arbeitet er an einer Zukunft mit, in der Maschinen unsichtbar sind. Ein Porträt.

Vogelflug für alle

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Max Rheiner und sein Team haben für das Naturschutzzentrum Neeracherried im Kanton Zürich einen neuartigen Simulator entwickelt. Mit 3D-Brille und künstlichem «Luftzug» macht er den Vogelflug für Besucher der Sonderausstellung «Fliegen wie die Vögel» erlebbar. Öffnungszeiten: Mittwoch: 14-20 Uhr, Samstag: 10-18 Uhr, Sonntag und Feiertage: 8-18 Uhr.

Fieses Putzmittel liegt in der Luft. Geruchschwaden von Lötzinn bis Sandwich. Und jede Menge flirrendes Wissen. Das unendliche Wort «Kreativität» scheint hier greifbar; fast hört man stürmische Gedanken, leise gemurmelt in diesem altehrwürdigen Gebäude. Zürcher Hochschule der Künste, Raum SQ308: Willkommen in einem der vielen Tüftlerbüros, die sich in diesem weissen Bauhaus-Bau wie Bienenwaben aneinander schmiegen.

Der Raum ist zugestapelt mit alten Computern, neuen, dicken, flachen. Lötkolben, Papier, Motorengetriebe – hier küssen sich grobe Mechanik und virtuelle Welt. Hier ist das Reich von Max Rheiner, Dozent für «Embodied Interaction and Physical Computing» an der Zürcher Hochschule der Künste. Er träumt von dem, was wir in Zukunft wollen könnten. «Vielleicht werden wir nicht bloss mit dem Freund in Australien skypen, sondern dank immersiver Telepresenz via Roboter-Hülle mit ihm tauchen oder joggen», sagt er, «wir müssen den Körper dort erweitern, wo er jetzt aufhört. Die Technologie wird schliesslich immer umfassender; wir müssen weiter denken.»

Phantasiewelt

In Rheiners Reich ist alles erlaubt und nichts undenkbar. Mit 42 Jahren ein Jungspund im Dozentensessel, im kreativen Geist ein Überflieger wie Peter Pan, der Junge, der nie erwachsen wird. » Von Zeit zu Zeit werde ich immer noch für einen Studenten gehalten», sagt er im breiten Rheintaler Dialekt, «vielleicht sollte ich es doch mal mit Hemden probieren.»

Ja, dieser Mann hat wenig heutige Probleme. Seine liegen in der Zukunft, dort wo Hardware und Software, Lötkolben und Livestream, Mensch und Maschine verschmelzen. Wie können wir unseren Computer bedienen, ohne Maus und ohne Tastatur? Könnte es mit blosser Geste funktionieren? «Das Gerät soll mich verstehen, mich lesen können – aber wie ist das möglich?» Solche Fragen treiben den stoischen Mann um, dessen Lachen an einen Bhudda erinnert.

Und schon ist man verführt zu glauben, dass alles möglich ist. Dass wir in «seiner Welt» künftig Zugfahren, ohne Nachdenken zu müssen. «Ticket-Automaten werden verschwinden und mobilen Konzepten weichen. Das Zugsystem registriert, dass ich eingestiegen bin. Es weiss, wer ich bin und welche Distanz ich fahre. Und schickt mir die Rechnung per Handy-App.»

Unsichtbar

Eine Technologie, die nicht allzu weit entfernt ist – und ein neuer Trend: immer mehr Technik, die immer weniger sichtbar wird. «Ich gestalte das Verschwinden der Technologie», so sagt Rheiner das, « damit wir leben können wie moderne Urzeitmenschen.» Keine Ampeln, keine Ticketautomaten, keine Tastatur – keinerlei Anzeichen für eine gigantische Welt der Technologie. Was wegsublimiert scheint, herrscht im Hintergrund und könnte bestenfalls jederzeit alle unsere Probleme lösen.

Und schlimmstenfalls? Des Neo-Neandertalers neue Probleme wie Datenschutz? Überwachung? Digitale Demenz? Das seien Sorgen, die wir schon jetzt haben, sagt der Interaktionsdesigner. Aber: «Die allwissende, immer verfügbare Technologie macht auch vieles einfacher, schafft Entspannung. Wir haben Ressourcen frei für andere Probleme. Menschheitsprobleme.»

Max Rheiner vor dem Gebäude der Zürcher Hochschule der Künste.
Legende: Optimist: Die Risiken der künftigen Technologien sieht Rheiner weniger dramatisch als andere Zeitgenossen. SRF

Schlafen?

Damit seine Welt vom Skizzierbrett zur Unsrigen wird, dafür kniet er sich, wenn es ein Projekt verlangt, auch gerne rund um die Uhr in eine Forschungsarbeit hinein. Der gelernte Elektroniker erntet mehr Glück als Geld damit, dass er seine Phantasien verwirklicht. Er reibt sich die Augen unter seinen Brillengläsern: Seit einem halben Jahr arbeitet er bis 1 Uhr nachts am Menschheitstraum vom Fliegen. Für das Naturschutzgebiet Neeracher Ried hat er eine «Weltneuheit» entwickelt, einen Vogel-Flug-Simulator (siehe Infobox oben).

Die Träume des Tüftlers selbst kreisen indes weniger um Rotmilan-Flugerlebnisse als darum, die Maschine zu optimieren. Immerzu. Getrieben sind sie, die Tüfler an der ZHDK, von der Kunst und der Forschung, weniger von der Industrie. «Im kommerziellen Rahmen Geld zu verdienen ist nicht das Ziel, sondern das Explorieren, das Experimentieren», sagt Rheiner, «sollte Google doch anklopfen und einen Weltflugsimulator bauen wollen, winke ich nicht ab. Ich möchte meine Projekte immer wieder weitertreiben, neu entdecken.»

Offline

Falls ihm seine Welt an der ZHDK zu klein wird, taucht er ab in die Ideenwelt von Büchern wie «Gullivers Reisen» oder «The Starmaker» von Olaf Stapledon, einem Science-Fiction-Vordenker und Philosophen aus dem 19.Jahrhundert. Visionär trifft Visionär? Nun ja, meint Rheiner, «eigentlich bin ich sogar konservativ. Mit Social Media kann ich nichts anfangen, zum Beispiel.» Twitter, Facebook, Instagram? Für den Interaktions-Spezialisten zu gefährlich: «Die Ablenkung! Ich sehe, wie meine Studenten nur mit 40 Prozent Hirnkapazität in meinen Vorlesungen sitzen, ständig online. Multitasking ist Lug und Trug.»

Video
Der Traum vom Fliegen
Aus Einstein vom 03.04.2014.
abspielen. Laufzeit 10 Minuten 2 Sekunden.

Rheiners eigene Erkundungsreisen hingegen führen ganz analog durch die Technologiewelt – von Ausstellungen in Moskau, über die Biennale in Venedig bis nach Südkorea. «Hier herrscht eine rasante Geschwindigkeit und kaum vergleichbare Kompromisslosigkeit bei der Durchsetzung von neuen Technologien, das beeindruckt mich.» Und wieder daheim, ist er von den Kollegen in Asien nur einen Mausklick entfernt, Projekte lassen sich auch via Skype gründen.

Büro-kratie

In Zürich ist der Tüftler und Dozent umgeben von kreativen Jungköpfen in der Werkstatt, wie auch im Studentensaal, wo er Interaktionsdesigner unterrichtet. Was sie wohl in Zukunft gestalten werden? «Vielleicht ein System, welches mir das Schreiben erleichtert», hofft er, «ich mag es nicht, Anträge für Forschungsprojekte zu schreiben; in der Schweiz herrscht viel Bürokratie. Ein Computer als Privatsekretär, der formuliert, wie ich denke: Das wäre was!»

Schön gesagt. Viel geträumt. Der Kopf nach dem Besuch in Zimmer SQ308 an der Hochschule der Künste brummt und ist, gefühlt, angeschwollen auf die Grösse eines TV-Gerätes aus den 60er-Jahren. Aber beruhigend zu denken: Auch diese wuchtigen Apparate verschwinden. Mit der unsichtbaren technologischen Welt von morgen.

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